› Todesnähe - Erfahrungen an der Grenze des Todes

1.0 Was ist eine »Nah-Todeserfahrung«?

Weltweit haben Millionen Menschen schon einmal eine Erfahrung in Todesnähe gemacht. Tausende solcher sogenannter »Nah-Todeserfahrungen« (oder kurz NTEs) sind von in der Forschung tätigen Medizinern untersucht worden, wobei sich Phasen oder Elemente feststellen ließen, die diesen Erfahrungen gemeinsam sind und sie somit definieren. Es sind im wesentlichen neun Merkmale die eine Nah-Todeserfahrungen charakterisieren, wobei nicht alle Elemente auftreten müssen um von einer Nah-Todeserfahrung sprechen zu können. Häufig werden nur ein oder zwei der Aspekte erlebt, z.B. die Erfahrung von Licht und die Lebensrückschau. Bei der folgenden Auflistung werden alle Merkmale anhand einer Geschichte veranschaulicht, die jemand, der schon an der Schwelle des Todes stand, tatsächlich erlebt hat.

2.0 Merkmale einer Nah-Todeserfahrung

2.1 Das Gefühl tot zu sein

»Es ist schwer zu erklären. In dem Moment war ich nicht die Frau meines Mannes. Ich war nicht die Mutter meiner Kinder. Ich war nicht das Kind meiner Eltern. Ich war ganz und vollständig ich selber.« (Eine fünfundsechzigjährige Frau aus Chicago nach einem Herzstillstand.)

2.2 Frieden und Schmerzfreiheit

»Es war, als ob die Bande, die mich an die Welt binden, gekappt worden wären. Ich empfand keine Furcht mehr und spürte auch eigentlich meinen Körper nicht. Ich konnte sie [die Ärzte und Schwestern] um mich herum arbeiten hören, aber das war bedeutungslos.« (Eine Hausfrau aus Georgia, die nach einem schweren Autounfall »starb«.)

2.3 Die Erfahrung, sich außerhalb des eigenen Körpers zu befinden

»Ich konnte auf mich selber hinunterschauen, wie ich da in meinem Krankenhausbett lag und Ärzte und Schwestern geschäftig um mich herumliefen. Ich konnte sehen, wie sie einen Apparat ins Zimmer fuhren und am Bettende abstellten. Er hatte zwei Griffe, die aus einer Art Kiste herausragten. Wie ich später herausfand, handelte es sich um eins dieser Geräte, mit dem man dem Herz Stromstöße versetzt, um es wieder zum Schlagen zu bringen, wenn es damit aufgehört hat.
Ein Priester kam herein und gab mir die Sterbesakramente. Ich bewegte mich zum Bettende hin und beobachtete alles, was vor sich ging. Ich kam mir vor wie eine Zuschauerin bei einem Theaterstück. Hinter mir im Bett war eine Uhr. Sie hing an der Wand. Ich konnte sowohl mich im Bett liegen sehen als auch die Uhr, die 11:11 Uhr anzeigte.
Dann ging ich zurück in meinen Körper. Ich erinnere mich noch, wie ich aufwachte und am Bettende nach mir suchte.« (Eine Frau aus Arizona, die beinahe an einer Überreaktion auf ein Arzneimittel gestorben wäre.)

2.4 Das Tunnel-Erlebnis

»Ich war beim Golfspielen, als sich ein Gewitter zusammenbraute, und zack – wurde ich von einem Blitz getroffen. Ich schwebte sekundenlang über meinem Körper, und dann fühlte ich mich durch so einen Tunnel hochgesogen. Sehen konnte ich nichts um mich herum, doch ich hatte das Gefühl, mich sehr schnell vorwärts zu bewegen. Ich war in einem Tunnel, das war mir klar, als ich dieses Licht am anderen Ende immer größer werden sah.« (Ein Autohändler aus dem Süden der USA, den ein Blitz getroffen hatte.)

2.5 Lichtgestalten

»Am Ende des Tunnels wurde ich von einer Schar Leute empfangen. Sie leuchteten alle von innen her wie Laternen. Genauso leuchtete die ganze Umgebung, alles dort war von Licht erfüllt. Ich kannte niemanden von den Leuten, auf die ich da traf, aber sie schienen mich alle sehr zu lieben.« (Ein zehnjähriger Junge, der einen Herzstillstand überlebte.)

2.6 Das Lichtwesen

»Ich weiß noch, dass ich in einem Garten ganz voller großer Blumen aufwachte. Wenn ich sie beschreiben sollte, würde ich sagen, sie schauten aus wie große Dahlien. Es war warm und licht und schön in diesem Garten. Ich schaute mich darin um, und da war so ein Wesen. Und obwohl der Garten so außergewöhnlich schön war, ließ seine Gegenwart alles andere verblassen. Von ihm fühlte ich mich vollkommen geliebt und gestärkt. Es war das wunderbarste Gefühl, das ich jemals erlebt habe. Obwohl es so einige Jahre her ist, spüre ich dieses Gefühl immer noch.« (Eine Frau mittleren Alters über die Nah-Todeserfahrung, die sie als Kind hatte.)

2.7 Die Lebensrückschau

»Dieses Lichtwesen umfing mich und führte mir mein Leben vor Augen. Alles, was du tust, musst du bewerten. So unangenehm es auch ist, sich manches daraus anzuschauen, so ist es doch ein gutes Gefühl, mal alles loszuwerden. Ich erinnere mich an einen speziellen Vorfall in dieser Rückschau, nämlich dass ich als Kind meiner kleinen Schwester das Osterkörbchen wegriss, weil ein Spielzeug drinlag, das ich selber wollte. Doch im Rückblick empfand ich ihr Gefühl der Enttäuschung und des Verlustes und der Ablehnung. Ich steckte jetzt in der Haut all derjenigen, denen ich weh getan hatte, und derjenigen, denen ich zu einem guten Gefühl verholfen hatte.« (Eine Frau aus Ohio, die mit 23 eine Nah-Todeserfahrung machte.)

2.8 Die widerwillige Rückkehr

Nach der Rückschau auf mein Leben wollte ich nicht in meinen Körper zurückkehren. Ich fühlte mich wohl, wo ich war, und das Licht um mich herum war die reine Liebe. Es [das Lichtwesen] fragte mich, ob ich zurückkehren wollte, und ich sagte: »Nein.« Es meinte jedoch, ich müsse zurückkehren, es gäbe noch etwas für mich zu tun. Ich wurde dann in meinen Körper zurückgesogen. Es lässt sich nicht anders beschreiben. Plötzlich lag ich da und schaute zu einem Arzt mit Paddeln in der Hand hoch. Einen Augenblick lang war ich ärgerlich darüber, dass man mich wieder ins Leben zurückgeholt hatte. »Mach das bloß nicht noch mal mit mir!« meinte ich. Damit schockierte ich meinen Freund, der alles getan hatte, um mich zu retten. (Ein Herzspezialist, der von einem seiner Kollegen wiederbelebt wurde.)

2.9 Die Persönlichkeitsveränderung

»Das erste, was ich sah, als ich im Krankenhaus aufwachte, war eine Blume, und ich weinte. Ob sie es glauben oder nicht, ich hatte noch nie wirklich eine Blume gesehen, bis ich aus dem Tod zurückkam. Eines habe ich gelernt, als ich starb: Wir sind alle Teil eines einzigen großen, lebendigen Universums. Wenn wir glauben, wir könnten einem anderen Menschen oder einem anderen Lebewesen weh tun, ohne uns selbst weh zu tun, dann ist das ein trauriger Irrtum.« (Ein zweiundsechzigjähriger Geschäftsmann, nachdem er einen Herzstillstand überlebt hat.)

3.0 Ein kritischer Blick auf Todesnäheerfahrungen

3.1 Eine uralte Erfahrung

Die Begriffe Todesnäheerfahrung, Nah-Todeserlebnis und Sterbeerfahrung bezeichnen ein Phänomen, das in allen Kulturen zu allen Zeiten beschrieben wurde. Die älteste Beschreibung stammt aus dem Gilgamesch-Epos, 5000 vor Christus. Meistens haben Menschen diese Erlebnisse, weil sie durch Krankheit oder Unfall beinahe gestorben sind. Es ist aber auch möglich derartige Visionen künstlich durch bestimmte Meditationsübungen oder Drogen hervorzurufen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um vollständige Todesnäheerfahrungen.

3.2 Ein »Programm« im Gehirn?

Obwohl viele Wissenschaftler davon ausgehen, dass diese Erfahrungen definierte Programme sind, die unter bestimmten Bedingungen im Gehirn ablaufen, haben nur fünf bis zehn Prozent aller Menschen diese Erlebnisse in einer lebensgefährlichen Situation. Wer sie erlebt hat, war nicht tatsächlich klinisch tot. Es lag vielleicht ein Herzstillstand vor, aber noch kein Nulllinien-EEG. Bestimmte Hirnteile müssen extrem aktiv sein, um solche Visionen zu erzeugen. Wahrscheinlich sind daran vor allem Prozesse im limbischen System, im Hypocampus und im Schläfenlappen beteiligt.

3.3 Negative Todesnähe-Erfahrungen

Meistens sind die Visionen von einem ungeheuren Glücksgefühl begleitet. Es kommen allerdings auch negative Todesnäheerfahrungen vor, Experten sprechen von bis zu einem Drittel der Fälle. Unter welchen Bedingungen sie entstehen ist nicht bekannt.

3.4 Wissenschaftliche Interpretation einzelner Aspekte

3.4.1 Außerkörperliche Erfahrungen

Oft beginnt ein Todesnäheerlebnis mit einer außerkörperlichen Erfahrung: Der Betreffende fühlt sich auf einmal leicht, hat keine Schmerzen mehr und beginnt, sich von seinem Körper zu entfernen. Er beobachtet dann beispielsweise, wie Ärzte und Schwestern versuchen, seinen Körper zu reanimieren. So mysteriös sind solche Berichte eigentlich nicht. Bei extremen Verletzungen und großen Schmerzen schützt das Gehirn unser Bewusstsein, vor diesen negativen Reizen. Körpereigene Opiate wirken wie Betäubungsmittel und erzeugen einen rauschartigen Zustand. Gleichzeitig fällt die Körperwahrnehmung aus.
Durch Augen und Ohren erreichen auch weiterhin Sinneseindrücke das Gehirn. Sie werden dort auch verarbeitet, allerdings anders als gewohnt. Dazu gehört auch die Verschiebung der Perspektive. Diesen Streich spielt das Gehirn uns öfter als wir glauben: Viele Menschen, die sich an einen Besuch im Schwimmbad erinnern, haben ein ähnliches Bild vor Augen. Sie sehen von oben zu, wie sie im Becken Bahn um Bahn schwimmen.

3.4.2 Lebensfilm

Ein ebenso häufiges Element von Todesnäheerfahrungen ist der so genannte Lebensfilm. Dabei sehen Betroffene ihr gesamtes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf. Wahrscheinlich sind dafür Prozesse in der Gedächtnisstruktur des Gehirns verantwortlich. Dort breitet sich die Aktivität des Nervengewebes unkontrolliert aus. Wahllos werden irgendwelche Erinnerungsbilder abgerufen.

3.4.3 Tunnelerlebnis

Häufig finden sich die Patienten dann in einer dunklen Übergangszone wieder, einer Treppe, einem Tunnel, einem Gang oder etwas ähnlichem. Dieses Phänomen lässt sich sehr gut erklären. Durch den Sauerstoffmangel fallen auch im Sehzentrum des Gehirns immer mehr Nervenzellen aus. Dort ist jeder einzelne Punkt auf der Netzhaut durch Nervenzellen repräsentiert. Eingänge aus der Mitte unseres Gesichtsfeldes werden jedoch von deutlich mehr Zellen verarbeitet als die weiter außen liegenden Punkte. Dieser Bereich ist also deutlich besser gegen Ausfälle gepuffert. Dort können also noch am längsten Lichtreize verarbeitet werden. Sie erscheinen als helles Licht am Ende eines dunklen Tunnels. Dasselbe erleben Piloten, die Loopings fliegen. Kurzfristig wird ihr Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Auch in ihrem Sehzentrum spielen sich dann, diese Prozesse ab.

3.4.4 Friede und Loslösung

Am Ende der Übergangszone tauchen Betroffene dann in das Licht ein. Sie befinden sich in einem hellen Raum, einer herrlichen Landschaft oder einfach nur im Licht. Dort beherrscht sie ein Gefühl von »tiefem Frieden«, »allumfassender Ruhe« oder »eins sein mit Gott«. Bei der Beschreibung dieses Erlebnisses ist unsere Sprache wohl zu begrenzt. Ähnliche Erfahrungen sind auch durch die Einnahme von Drogen wie, Ketamin, Cannabis und LSD möglich. Vermutlich gibt es in unserem Gehirn Botenstoffe, die an dieselben Bindungsstellen wie diese Substanzen andocken. Anders lässt sich ihr Vorhandensein auch gar nicht erklären. Es wurde bereits eine Bindungsstelle für Cannabis identifziert. Die Forscher gaben ihr den treffenden Namen: Annandamid. Das ist Sanskrit und bedeutet »Innere Glückseligkeit«.

4.0 Grenzen der Wissenschaft

Auch wenn alle Elemente der Todesnäheerfahrungen erklärbar sind, wissenschaftlich belegen lassen sich diese Thesen nicht. Denn: Nur wer das Sterben überlebt, kann darüber berichten. Simulieren lässt sich der Tod nicht...

Facetious & Co (April 2003, 2AD)

Quellenhinweise:
Die Beschreibung des Phänomens (Kap. 1 und 2) wurde dem Buch von M. Morse, P. Perry, Verwandelt vom Licht – Über die transformierende Wirkung von Nah-Todeserfahrungen, München 1994, 9-14 entnommen. Der »kritische Blick« (Kap 3 und 4) entstammt einem Sendungsbericht des Westdeutschen Rundfunks.