› Neurotheologie - Wohnt Gott im Kopf?

1.0 Das spirituelle Gehirn

Unser Gehirn ist weit mehr als die meisten Gehirnwissenschaftler (Neurophysiologen) annehmen. Es ist nicht nur ein »Bio-Computer«, eine bloße Ansammlung von Gehirnzellen und elektrochemischen Impulsen, sondern weit mehr als das: es ist wie geschaffen für spirituelle oder religiöse Erfahrungen. Der Neurophysiologe Andrew Newberg von der Universität in Pennsylvanien und sein Kollege Eugene d'Aquili haben nachgewiesen, dass unsere grauen Zellen »religiöse Erfahrungen begünstigen.«

Sie produzierten Gehirn-Scans von meditierenden tibetischen Mönchen und betenden Franziskanernonnen mit einem speziellen Computertomografen (SPECT), und zwar genau in dem Moment, wenn diese durch ein vorher vereinbartes Fingerzeichen andeuteten, dass sie sich in einem Zustand des »Einsseins mit dem Kosmos« befanden oder eine »Verbindung mit Gott« spürten. Ein meditierender Versuchsteilnehmer beschrieb diesen Zustand so: »Ich hatte das Gefühl von Zeitlosigkeit und Unendlichkeit. Ich fühlte mich eins mit allen Menschen, Dingen und Ereignissen. Es gab keine Grenze mehr zwischen mir und dem Rest der Welt.«

Erwartungsgemäß ergaben die Messungen am SPECT für diese Momente, dass der »präfrontale Kortex«, der Sitz unserer Aufmerksamkeit im Gehirn, sehr aktiv war. Schließlich sind sowohl Meditation als auch Gebet Aktivitäten, die eine große Aufmerksamkeit voraussetzen oder erfordern, auch wenn diese bei der Meditation nicht notwendigerweise auf etwas Bestimmtes konzentriert ist. Aber die Wissenschaftler entdeckten auch ein weiteres, ziemlich erstaunliches Phänomen: ein bestimmter Bereich im oberen und hinteren Gehirn streikte - es war keinerlei Aktivität mehr zu verzeichnen. Diese Region, die man das »Orientierungsareal« nennt, verarbeitet normalerweise Informationen über Zeit und Raum bzw. die räumliche Orientierung des Körpers. Hier legt das Gehirn fest, wo der Körper aufhört und der Rest der Welt anfängt.

»Wenn in dieser Region keine Aktivität stattfindet, wie dies in tiefer Meditation der Fall ist, hindert man das Gehirn daran, eine Grenze zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst zu ziehen«, sagt Newberg. Ohne Information oder Impulse kann das Orientierungsareal also keine Grenze zwischen Körper und Umwelt ziehen und hat in der Folge keine andere Wahl als »das Selbst als endlos und aufs tiefste mit allem Seienden verbunden zu empfinden.«

Neurotheologie nennt sich dieser neue Zweig der Neurophysiologie und er befasst sich mit unserem angeborenen Sinn fürs Heilige, Spirituelle, Religiöse, Göttliche und damit, wo dieser sich in unserem Gehirn manifestiert. Dass Gott sich im Gehirn manifestiert, dürfte einen beim näheren Hinsehen nicht überraschen. Schließlich hinterlässt jede Erfahrung Spuren im Gehirn; dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Straßenlärm, den Anblick unserer Geliebten oder eine spirituelle Vision handelt. Es scheint das Gehirn nun mal nicht zu kümmern, ob es etwas Gegenständliches, Gefühlvolles oder Transzendentes erlebt - es unterscheidet nicht zwischen diesen Realitäten. Andrew Newberg meint dazu: »Es gibt eine universelle Beschreibung religiöser Erfahrungen, und zwar unabhängig von Kulturen und Traditionen, und die Wissenschaft zeigt nun, dass die Erfahrungen neurologisch real sind. Deshalb vermute ich, dass es eine objektive Realität gibt, die wir in diesen Erfahrungen berühren können. Die Frage ist nur, was ist ihre wahre Natur?«

2.0 Ist die Erleuchtung nur das Schweigen eines Gehirnbereichs?

Das Empfinden für die Unendlichkeit des Raumes, die All-Einheit und die Grenzenlosigkeit des Selbst spielt in den non-dualistischen spirituellen Lehren eine Hauptrolle. Das direkte Erleben dieser »Wahrheit«, wie sie beispielsweise jeder Satsang-Lehrer für sich als seine »Erleuchtung« beansprucht und lehrt, geht ganz offensichtlich mit dem Schweigen des Orientierungsareals im Gehirn einher. Dieser und ähnliche Zustände waren der wesentliche Forschungsgegenstand von Andrew Newberg und seiner Kollegen. Aber was ist mit zum Beispiel mit mystischen Visionen?

Einige Forscher haben aufgrund medizinischer Erkenntnisse die Theorie entwickelt, mystische Erfahrungen und Ekstasen würden durch kurzzeitige elektrische Hyperaktivität in den Temporallappen des Gehirns ausgelöst. Michael Persinger, Professor an der Laurentian Universität in Kanada und Wegbereiter einer Theorie, gemäß der UFO-Sichtungen und Kornfeldkreise durch Erdmagnetfeldschwankungen verursacht werden, hat eine Art Helm konstruiert, um diese Theorie zu testen. Man kann mit diesem Gerät punktgenau schwache magnetische Felder produzieren, die dann kurze Stöße elektrischer Aktivität in den Temporallappen auslösen. Persinger schreibt, dass seine Versuchspersonen nach entsprechender Stimulation ihrer Temporallappen durchweg von übernatürlichen und spirituellen Erlebnissen berichten, von außerkörperlichen Erfahrungen und von Kontakten zum »Göttlichen«. Seiner Meinung nach kann man diese elektrischen Mini-Stürme im Gehirn aber auch durch Angst, psychische Krisen, Sauerstoffmangel oder -überschuss, Unterzuckerung des Blutes oder Übermüdung verursachen. Es ist aus seiner Sicht daher nicht erstaunlich, dass man die besagten mystischen Zustände auch durch extreme Konfrontation mit Unsicherheit, durch Hyperventilation, langzeitiges Fasten oder Schlafentzug, aber auch in der Gestalt spiritueller Praktiken wie beispielsweise monotoner Gesänge und Rhythmen oder ritueller Bewegungen willentlich herbeiführen kann.

Die geschilderten Versuche von Newberg unterscheiden sich von denen, mit denen sich u.a. Persinger befasst - Erlebnisse der Unbegrenztheit, Erleuchtung und Alleinheit einerseits und andererseits Visionen mit religiösem Inhalt und Offenbarungen. Beide aber mehren die Erkenntnisse über die Spuren des Spirituellen, Mystischen und selbst des Göttlichen im Gehirn. Und diese Erforschungen sind sicher erst der Anfang einer rasanten Entwicklung, die uns auf ganz neue Weise zu zeigen scheint, dass sich das Göttliche gehirnphysiologisch beschreiben und bis zu einem gewissen Grad sogar erklären lässt.

3.0 Passt sich die Biologie dem Göttlichen an?

Heißt das nun, dass Religion oder Spiritualität sich auf ein rein biologisch begründetes Bedürfnis reduzieren lassen? Gaukelt uns das Gehirn nur etwas vor - Gott, All-Einheit, Erleuchtung? Ist das alles »nur in unserem Kopf«? Nicht unbedingt, denn auch der Duft eines Apfels, der uns den Mund wässerig macht, ist letztendlich »nur in unserem Kopf«, ebenso wie der Drang, uns mit einem Partner zu vereinigen. Das heißt jedoch keineswegs, dass es »dort draußen« keinen Apfel gäbe oder keinen Partner, der schon darauf wartet, mit uns durchs Gehirnfeuer der Lüste zu gehen...

Zu allen Zeiten und überall in der Welt machen Menschen spirituelle Erfahrungen, die ihnen einen tieferen Sinn vermitteln und eine tiefere Wirklichkeit, als man sie mit den fünf Sinnen oder rational erfassen kann. Was, wenn diese Erfahrungen ein Fenster sind? Was, wenn sie auf eine objektive Realität hinweisen? Ist es denn nicht denkbar, dass unser Gehirn in dieser Hinsicht als ein Organ zu verstehen ist, das sich wie das Auge entwickelt hat, damit es bestimmte wesentliche Wirklichkeiten wahrnehmen und damit in Interaktion treten kann?

Sicher scheint inzwischen, dass wir angesichts der neuen Erkenntnisse auf eins verzichten können, und zwar auf den vermittelnden Geist, der zwischen der spirituellen und materiellen Wirklichkeit vermitteln soll. Es spricht natürlich nichts dagegen, dass es diesen Geist gibt, aber eine ungeschriebene Regel der Vernunft besagt, dass man Unnötiges tunlichst fallen lassen sollte. Bevor wir zum Beispiel eine Erklärung für den Schall und sein Verhalten hatten, lag es scheinbar auf der Hand, dass ein Donnergott für das Gewittergetöse verantwortlich war - heute halten die meisten Menschen diesen nicht mehr für erforderlich. So wäre es nun, nachdem wir wissen, dass unser Gehirn spirituelle Erfahrungen produziert, nicht mehr nötig, an einen vom Hirn unabhängigen »Geist« zu glauben, der uns spirituelle Inhalte vermittelt. Das Gehirn hätte also einen direkten Zugang zur mystischen Wirklichkeit, so wie das Auge einen direkten Zugang zu den sichtbaren Lichtwellen hat. Dies dürfte an lange sicher geglaubten Fundamenten der spirituellen Weltsicht rütteln. Denn wenn unser Gehirn direkten Zugang zu einer Dimension hat, die wir bisher »geistige Welt« genannt haben, was ist dann der Geist und was diese Dimension?

4.0 Evolution hin zum Göttlichen

Das Gehirn ist nach gängiger Überzeugung ein Produkt der Evolution - und das, was die (Über)-Lebenschancen einer Spezies begünstigt, wird von Mutter Natur beibehalten. Ich denke, dies wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Auch in spirituellen Kreisen nicht, wo ja die Überzeugung vorherrscht, dass wir uns auf »das Göttliche« hin entwickeln. Ja, die spirituelle Verdrahtung der Neuronen des Gehirns passt eigentlich ganz gut in dieses Bild eines »höheren Ziels«, auf das wir uns evolutionär zuzubewegen scheinen. Ob das nun richtig ist oder nicht: die Forschung an unserem Gehirn hat inzwischen den unmissverständlichen Beweis geliefert, dass spirituelle Erfahrungen und Erlebnisse zutiefst menschlich sind - wir sind von Mutter Natur darauf programmiert, die spirituellen Bereiche zu erkunden. Ja, heute können wir selbstbewusst sagen: der Mensch ist ein spirituelles Wesen und ja, wir wissen ein wenig, wo und wie das im Gehirn funktioniert. Jeder, der dem widerspricht, ist schlicht nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung. Oder anders: wir haben heute den wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der Mensch ein spirituelles Wesen ist und ein entsprechendes Gehirn hat.

Aus anderen Untersuchungen wissen wir seit langem, wie gesund regelmäßige Meditationen und andere »Aufenthalte im Spirituellen« sind und wie sehr z.B. das Immunsystem davon profitiert, ganz abgesehen von den sozialen Bindungskräften, die freigesetzt werden, wenn Menschen ein spirituell erfülltes Leben führen. Wer mystische Erfahrungen macht, ist im Allgemeinen recht offen für Neues, ist kreativ, hat viele unterschiedliche Interessen, kann gut mit mehrdeutigen Situationen umgehen und hat eine Menge Fantasie, wie die Befragung von Menschen mit mystischen Erfahrungen zeigt.

Was all diese Untersuchungen jedoch nicht bieten, ist die eigene Anschauung – sie erklären lediglich einiges, was ungeklärt war, und das zunächst nur auf der sehr oberflächlichen Ebene der Messungen. Aber: das Fenster in den spirituellen Bereich öffnen kann nur jeder selbst - und die Chancen nutzen, die sich einem in dieser Hinsicht allenthalben bieten. Wir haben heute den wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der Mensch ein spirituelles Wesen ist und ein entsprechendes Gehirn hat.

Mushin J. Schilling. Vgl. zu diesem umfangreichen Gebiet auch einen Beitrag von Bayern-Online.