Unterscheidung - Gedanken und seelisches
Wohlbefinden
1.0 Einleitung
In der autobiographischen Schrift »Der Bericht des Pilgers«
werden die Anfänge des geistlichen Lebens des Ignatius von Loyola
geschildert. Neben verschiedenen Facetten seines äußeren
Schicksals beschreibt Ignatius hier eine Schlüsselerfahrung,
die ihn später dazu führte eine eigenständige Lehre
von der »Unterscheidung der Geister« zu formulieren.
2.0 Aus dem Bericht des Pilgers
2.1 Verwundung im Krieg
Bis zum Alter von sechsundzwanzig Jahren war er (Ignatius) den
Eitelkeiten der Welt ergeben, und hauptsächlich fand er aus
einem unbändigen und eitlen Verlangen, sich Ruhm zu gewinnen,
sein Gefallen in Waffenübungen. Er gehörte damals zur
Besatzung einer Zitadelle, welche die Franzosen berannten; und während
nun alle andern der Meinung waren, man solle sich unter der Bedingung
freien Abzuges ergeben, da sie die Unmöglichkeit einer Verteidigung
klar einsahen, redete er dagegen mit so viel Gründen auf den
Befehlshaber ein, dass dieser sich trotz allem zur Verteidigung
entschloss entgegen der Ansicht aller anderen Offiziere, die sich
aber dann doch durch seinen Mut und seine Tapferkeit mitreißen
ließen. Als nun der Tag anbrach, an dem man mit dem Beginn
der Beschießung rechnen mußte, beichtete er bei einem
seiner Waffengefährten. Als die Beschießung eine gute
Zeitlang gedauert hatte, traf ihn ein Kanonenschuß an einem
Bein und brach es vollständig; und da die Kugel auf der Innenseite
des Beines durchging, wurde dabei auch das andere Bein schwer verwundet.
(...)
2.2 Zeit für Lektüre
So war er gezwungen, zu Bett zu bleiben. Da er auf die Lektüre
von Büchern mit weltlichem und erfundenem Inhalt schon immer
versessen war – man nennt sie gewöhnlich Ritterromane
– und da er sich nun gesund genug fühlte, bat er um einige
solcher Bücher, um sich damit die Zeit zu vertreiben. Jedoch
fand sich in jenem Haus nichts von seiner üblichen Lektüre.
Deshalb gab man ihm ein Leben Christi und eine Sammlung von Heiligenleben
in spanischer Sprache.
2.3 Unterschiedliche »Meditationen«
In diesen Büchern las er oftmals; und in etwa begeisterte
er sich für das, was er da geschrieben fand. Wenn er seine
Lektüre unterbrach, richtete er manchmal seine Gedanken auf
die Dinge, die er eben gelesen hatte, und dann wieder auf die Dinge
der Welt, an die er früher immer gedacht hatte. Unter den vielen
eitlen Gedanken, die sich ihm so aufdrängten, hatte besonders
einer sein Herz in Beschlag genommen, so dass er sofort, ohne es
zu merken, durch zwei und drei und vier Stunden hindurch wie versunken
in diesen Gedanken war. Er stellte sich nämlich vor, was er
im Dienst einer Dame zu tun habe, wie er es anstellen könne,
um an ihren Aufenthaltsort zu gelangen, was für schöne
Verse und welche Worte er zu ihr sagen werde und was für Waffentaten
er in ihrem Dienst vollbringen wolle. So ganz hingegeben war er
an diese Vorstellung, dass er gar nicht darauf achtete, wie unmöglich
ihre Verwirklichung war. Denn die Dame war nicht von gewöhnlichem
Adel oder bloß Gräfin oder Herzogin, sondern ihr Stand
war viel höher als all dieses.
Jedoch kam ihm unser Herr zu Hilfe, indem Er derartigen Gedanken
andere folgen ließ, die ihren Ausgangspunkt in dem hatten,
was er eben las. Bei der Lektüre des Lebens unseres Herrn und
der Heiligen machte er sich nämlich Gedanken und überlegte
bei sich: Wie wäre es, wenn ich all das täte, was der
heilige Franziskus getan hat, oder das, was der heilige Dominikus
tat? Solche Überlegungen stellte er über vielerlei an,
was ihm gerade gut erschien. Dabei nahm er sich immer schwierige
und mühsame Aufgaben vor; und wenn er sich solche vornahm,
meinte er, in sich Kraft genug zu finden, um sie auch wirklich durchzuführen.
Seine ganze Überlegung bestand darin, dass er zu sich selber
sagte: Der heilige Dominikus hat dies getan, also muss auch ich
es tun; der heilige Franziskus hat jenes getan, also muss auch ich
es tun. Auch diese Gedankengänge dauerten geraume Zeit an.
Ihnen folgten, wenn irgend etwas anderes dazwischenkam, die weltlichen
Gedanken, von denen schon zuvor die Rede war, und auch bei diesen
hielt er sich wieder lange auf. Dieses Nacheinander so grundverschiedener
Gedankengänge dauerte bei ihm lange Zeit an, und jeweils war
er ganz in eben den Gedanken verloren, der ihm gerade kam, waren
es nun die weltlichen Großtaten, die er zu vollbringen wünschte,
oder jene anderen Taten für Gott, die sich seiner Phantasie
aufdrängten, bis er, müde geworden, wieder davon abließ
und sich anderem zuwandte.
2.4 Eine spirituelle Entdeckung
Indessen gab es dabei diesen einen Unterschied: wenn er sich mit
weltlichen Gedanken beschäftigte, hatte er zwar großen
Gefallen daran; wenn er aber dann, müde geworden, davon abließ,
fand er sich wie ausgetrocknet und missgestimmt. Wenn er jedoch
daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur noch
wilde Kräuter zu essen und alle andern spirituellen Übungen
auf sich zu nehmen, die, wie er las, die Heiligen auf sich genommen
hatten, da erfüllte ihn nicht bloß Trost, solange er
sich in solchen Gedanken erging, sondern er blieb zufrieden und
froh, auch nachdem er von ihnen abgelassen hatte. Allerdings gab
er darauf nicht acht, und er hielt nicht inne, um diesen Unterschied
richtig einzuschätzen, bis ihm schließlich eines Tages
die Augen darüber ein wenig aufgingen. So fing er endlich an,
diese Verschiedenheit als merkwürdig zu empfinden und darüber
nachzugrübeln. Aus seiner Erfahrung ergab sich ihm, dass er
nach den einen Gedanken trübsinnig und nach den andern froh
gestimmt blieb; und allmählich kam er dazu, darin die Verschiedenheit
der Geister zu erkennen, die dabei tätig waren, nämlich
einmal der Geist des Teufels und das andere Mal der Geist Gottes.
Dies war die erste Überlegung, die er über die Dinge Gottes
anstellte. Und als er später die Exerzitien verfasste, begann
er von hier aus Klarheit über die Lehre von der Verschiedenheit
der Geister zu gewinnen.
Aus: Ignatius von Loyola, der Bericht des Pilgers, Kap. 1-9
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