› Der vierte Weise - Die Geschichte einer Suche (zweiter Teil)

Die ganze Nacht hatte Vasda, das schnellste von Artabans Pferden, gesattelt und gezäumt in seinem Stall gewartet, ungeduldig den Boden scharrend und das Gebiss schüttelnd. Bevor noch die Vögel recht auf waren zu ihrem hohen, freudigen Morgenlied und noch ehe der Nebel sich träge von der Ebene hob, war der vierte Weise schon im Sattel und trabte auf der Straße, die am Fuße des Orontes entlangführte, rasch nach Westen.
Wie eng, wie vertraut ist die Kameradschaft zwischen Reiter und Lieblingspferd auf einer langen Reise! Sie trinken von der gleichen Quelle am Wegrand, schlafen unter den gleichen schützenden Sternen. Der Herr teilt mit seinem hungrigen Gesellen sein abendliches Mahl und spürt die weichen Lippen, während sie sich den Brotbrocken holen, seine Handfläche liebkosen. Im Morgengrauen wird er vom sanften Fächeln eines warmduftenden Atems von seinem Lager geweckt und blickt auf in die Augen seines treuen Weggefährten, der bereitsteht und wartet auf die Mühsal des Tages. Und dann trommeln durch die beißende Morgenluft die geschwinden Hufe im Takt zum Schlag zweier Herzen ihre frische Stakkatomusik.
Artaban musste klug und kräftig zureiten, um die mit den anderen Magiern vereinbarte Frist einzuhalten; denn der Weg führte über 150 Parasangen, und 15 Parasangen waren das Äußerste, was er an einem Tag schaffte. Aber er trabte unbesorgt dahin und legte jeden Tag die abgemessene Strecke zurück, obwohl er bis spätin die Nacht und morgens lange vor Sonnenaufgang im Sattel sein musste.
Er ritt die braunen Hänge des Orontes entlang, die von den Felsbetten Hunderter von Gießbächen durchfurcht waren. Er durchquerte die weite nisäische Ebene, wo die berühmten Pferdeherden, die auf den weiten Weiden grasten, bei Vasdas Annäherung die Köpfe hochwarfen und mit vielhufigem Donner davongaloppierten und Schwärme wilder Vögel sich aus den sumpfigen Wiesen erhoben und mit dem Rauschen unzähliger Flügel und schrillem Fluchtgeschrei weite Kreise zogen.
Er durchritt die fruchtbaren Felder von Konkabar, wo der Staub von den Dreschtennen die Luft mit einem goldenen Nebel sättigte, der den Riesentempel der Astarte mit seinen 400 Säulen verhüllte. In Bagistana zwischen den üppigen, von Felsenquellen bewässerten Gärten blickte er auf zu dem Berg, der sein enormes Antlitz über die Straße erhob, und er sah die Gestalt des Königs Dareios, wie er seine besiegten Feinde unter die Füße trat, und die stolze Liste seiner Kriege und Eroberungen hoch eingegraben in die ewige Felswand.
Über manchen kalten und wüsten Pass, in mühsamem Schritt über windgepeitschte Bergflanken; durch manch schwarze Schlucht, wo der Fluss vor ihm röhrte und toste; durch manch lächelndes Tal mit Terrassen gelben Kalkgesteins voller Reben und Obstbäume; durch die Eichenhaine von Karin und die dunklen Tore des Sagros, ummauert von Steilhängen; über die weiten Reisfelder, wo die Herbstnebel ihre tödlichen Dünste verbreiteten; dem Gyndesufer nach, unter den zitternden Schatten von Tamarinden und Pappeln dahin, durch die flacheren Berge, dann hinaus auf die Ebene, wo die Straße pfeilgerade durch Stoppelfelder und verbrannte Wiesen verlief; über die vielen Kanäle des Euphrat - rastlos ritt Artaban zu, bis er am Abend des zehnten Tages vor den zerstörten Mauern des volkreichen Babylon anlangte.
Gern wäre er in die Stadt eingebogen, um Rast und Erfrischung für sich und Vasda zu finden. Aber es waren noch drei Stunden Ritt bis zum Tempel der Sieben Sphären, und den musste er bis Mitternacht erreichen, wollte er seine wartenden Gefährten noch antreffen. So ritt er stetig weiter. Ein Dattelpalmenhain bildete eine düstere Insel im blassgelben Meer der Stoppelfelder, und als Vasda in den Schatten gelangte, verfiel sie in gemächlicheren Trott.

Der Hain war dumpf und schweigend wie das Grab; nicht ein Blatt raschelte, nicht ein Vogel sang. Gefahr oder Unheil witternd, schritt Vasda mit gesenktem Kopf vorsichtig ihres Wegs. Endlich stieß sie einen kurzen, ängstlichen Schnaufer aus und blieb, in jedem Muskel zitternd, vor einem dunklen Etwas im Schatten der letzten Palme stehen.
Artaban stieg ab. Das trübe Sternenlicht ließ die Gestalt eines Mannes erkennen, der mitten im Weg lag, einen der armen hebräischen Verschleppten, die immer noch in großer Zahl in der Gegend hausten. Seine Haut war trocken und gelb wie Pergament und trug die Zeichen des tödlichen Fiebers, das zur Herbstzeit in den Sümpfen wütete. Seine Hand hatte die Kälte des Todes, und der losgelassene Arm sank leblos zurück.
Artaban wandte sich ab. Mitleidig überantwortete er in Gedanken den Toten der Bestattung, die die Magier für die angemessenste hielten - der Leichenfeier der Wüste, von der sich die Geier auf dunklem Fittich erheben und Raubtiere sich leise drücken, um nur einen Haufen weißer Knochen im Sand zurückzulassen. Doch als Artaban im Begriff war zu gehen, entrang sich den Lippen des Mannes ein unheimlicher Seufzer, und die knochigen Finger krallten sich in den Gewandsaum des Magiers. In dumpfem Unwillen über das Missgeschick war Artabans Geist hin und her gerissen. Welchen Anspruch hatte dieses unbekannte Menschenwrack auf seine Dienste? Wenn er sich auch nur eine Stunde aufhielt, konnte er Borsippa kaum noch zur festgesetzten Zeit erreichen; seine Gefährten würden ohne ihn aufbrechen. Sollte er der Nachfolge des Sterns untreu werden, die große Belohnung seines heiligen Glaubens aufs Spiel setzen, nur um einem armen, todgeweihten Hebräer einen Becher Wasser zu reichen?
»Gott der Wahrheit und Reinheit«, betete Artaban, »leite mich auf dem heiligen Pfad, dem Weg der Weisheit, den allein Du kennst.« Dann wandte er sich zurück zu dem hilflosen Bündel. Er trug es zum Fuß der Palme, wickelte den Turban ab und öffnete das Gewand über der eingesunkenen Brust. Von einem der kleinen Kanäle in der Nähe holte er Wasser, um des Leidenden Stirn und Mund zu benetzen. Aus einer der einfachen, aber wirksamen Arzneien, die er immer im Gürtel trug (die Magier waren nicht nur Sterndeuter, sondern auch tüchtige Ärzte), mischte er einen Trank und flöße ihn behutsam den farblosen Lippen ein. Stunde um Stunde mühte er sich, und endlich kehrte des Mannes Kraft zurück. Er richtete sich auf und blickte um sich. »Wer bist du?« fragte er.
»Ich bin Artaban der Magier. Ich bin auf der Reise nach Jerusalem, auf der Suche nach einem, der geboren werden soll, um ein großer Fürst und Retter aller Menschen zu werden. Ich darf mich nicht länger aufhalten. Aber sieh, hier ist alles, was ich an Brot und Wein übrig habe, und ein Trank aus heilenden Kräutern. Wenn deine Kraft wiederhergestellt ist, kannst du die Wohnungen der Hebräer in den Häusern Babylons erreichen.« Feierlich hob der Jude seine zitternde Hand zum Himmel. »Möge der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs die Reise des Barmherzigen segnen und glücken lassen. Ich habe nichts, was ich dir zum Dank geben könnte - nur dies; dass unsere Propheten sagen, der Messias werde nicht in Jerusalem geboren werden, sondern in Bethlehem in Juda. Möge der Herr dich in Frieden und Sicherheit dorthin bringen.«

Es war schon weit über Mitternacht. Artaban sputete sich, und Vasda, erquickt von der Rast, flog über den Boden wie eine Gazelle. Doch der erste Sonnenstrahl schickte schon Schatten vor sich her, als sie sich dem Ziel der Reise näherten, und die Augen Artabans, die gespannt den hohen Nimrudhügel und den Tempel der Sieben Sphären musterten, konnte keine Spur von seinen Freunden mehr entdecken.
Rasch umritt er den Hügel mit seinen zerfallenen Terrassen aus bunten Ziegeln. Er saß ab, er erklomm die oberste Terrasse und spähte nach Westen aus. Die weite Ode der Sümpfe erstreckte sich bis zu Horizont und zur Grenze der Wüste. Rohrdommeln standen an den trägen Teichen, und Schakale schlichen durch das niedrige Buschwerk, aber von der Karawane der Weisen war weit und breit nichts mehr zu sehen.
Am Rand der Terrasse stieß er auf ein kleines Steinmal aus Ziegeltrümmern, und darunter fand er ein Stück Pergament. Er las: »Wir können nicht länger warten. Wir gehen auf die Suche nach dem König. Folge uns durch die Wüste.«
Artaban setzte sich auf den Boden und verhüllte in Verzweiflung sein Haupt.
»Wie kann ich die Wüste durchqueren«, dachte er, »ohne Nahrung und mit einem erschöpften Pferd? Ich muss zurück nach Babylon, mich von meinem Saphir trennen und einen Trupp Kamele und Proviant für die Reise kaufen. Gott der Barmherzige allein weiß, ob ich nicht um den Anblick des Königs kommen werde, weil ich mich damit aufgehalten habe, mitleidig zu handeln.«

Im Reich der Träume entstand eine Stille. Und durch diese Stille sah ich, aber nur sehr verschwommen, die Gestalt des vierten Weisen, wie sie hoch auf dem Rücken des Kamels, das stetig voranschaukelte wie ein Schiff auf dem Ozean, die tristen Wellen der Wüste durchquerte.
Das Land des Todes umfing ihn mit seinem grausamen Netz. Die steinigen Öden trugen keine Frucht außer Gestrüpp und Dornen. Karge, unwirtliche Bergketten erhoben sich vor ihm, durchfurcht von den trockenen Betten versiegter Sturzbäche. Wandernde Hügel trügerischen Sandes zogen sich wie Grabhügel über den Horizont. Bei Tag lastete die wütende Hitze mit unerträglicher Bürde auf der zitternden Luft, und kein lebendes Geschöpf regte sich außer winzigen Wüstenspringmäusen, die durch die verdorrten Büsche hüpften, und Eidechsen, die in die Felsspalten huschten. Bei Nacht streiften in der Ferne heulende Schakale, während dem Fieber des Tages schneidende Kälte folgte. Durch Hitze und Frost verfolgte der Magier seinen Weg.
Dann sah ich die Blumen- und Fruchtgärten von Damaskus, gewässert von den Flüsschen Abana und Pharpar, die Rasenhänge bestickt mit Blüten. Ich sah den langen, schneeigen Rücken des Hermon, die dunklen Zedernhaine, das Jordantal, die blauen Wassers des Sees Genezareth und weit in der Ferne das Hochland von Juda.

Durch all diese Landschaften wanderte Artaban unermüdlich. Dann gelangte er erschöpft, aber voll Hoffnung nach Bethlehem; noch hatte er ja den Rubin und die Perle, die er dem König schenken wollte. »Jetzt endlich«, sagte er zu sich, »werde ich ihn gewiss finden, wenn auch allein und später als meine Mitbrüder.«
Die Straßen des Dorfes wirkten verödet. Aus der offenen Tür eines niedrigen Bauernhäuschens hörte Artaban den Klang einer leise singenden Frauenstimme. Er trat ein und fand eine junge Mutter, die ihr Kind in den Schlaf wiegte. Sie erzählte ihm von den Fremden aus dem fernen Morgenland, die vor drei Tagen im Dorf erschienen waren. Ein Stern, hatten sie gesagt, habe sie zu dem Ort geleitet, wo Joseph von Nazareth mit seiner Frau Maria und ihrem neugeborenen Kind Jesus weilte. Sie erzählte, wie sie dem Kind gehuldigt und ihm Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe zu Füßen gelegt hatten.
»Aber die Fremden verschwanden wieder, so plötzlich wie sie gekommen waren. Die Wunderlichkeit ihres Besuchs machte uns bange« erzählte die Frau. »Die Familie aus Nazareth ist in der gleichen Nacht fortgegangen, und es wurde geflüstert, sie wolle weit weg flüchten, bis nach Ägypten. Seither hängt etwas Unheimliches über dem Dorf. Es heißt, dass römische Soldaten aus Jerusalem kommen sollen, um eine neue Steuer einzutreiben, und unsere Männer haben die Herden bis in die Berge getrieben und verstecken sich dort, um der Steuer zu entgehen.«
Das Kind in ihren Armen sah zu Artaban auf und lächelte, die rosigen Händchen nach ihm ausstreckend. Artaban wurde warm ums Herz, als sie ihn berührten. »Hätte nicht auch dieses Kind der verheißene Fürst sein können?« fragte er sich, während er ihm über die weiche Wange strich. »Könige sind schon in ärmlicheren Hütten als dieser zur Welt gekommen, und der Liebling der Sterne kann auch einem Bauernhaus entstammen. Doch nein, es hat dem Gott der Weisheit nicht gefallen, meine Suche so leicht zu lohnen. Der, den ich suche, ist mir entschwunden, und jetzt muss ich ihm nach Ägypten folgen.«
Die junge Mutter legte das Kind in seine Wiege und setzte dem fremden Gast, den ihr das Schicksal ins Haus gebracht hatte, Speise vor. Es war das einfache Mahl von Bauern, aber gern gespendet und darum voller Erquickung für Leib und Seele. Während Artaban aß, fiel das Kind in einen sanften Schlummer und lallte in seinen Träumen leise vor sich hin.
Plötzlich erscholl von der Straße her der Lärm eines wilden Auflaufs, ein Kreischen und Wehklagen von Frauenstimmen, Trompetengeschmetter und ein verzweifelter Schrei: »Soldaten! Die Soldaten des Herodes! Sie bringen unsere Kinder um!« Weiß vor Schreck verkroch sich die junge Mutter in die finsterste Ecke des Raums und blieb dort reglos hocken, wobei sie das Kind mit den Falten ihres Gewandes bedeckte, damit es nicht erwachte und schrie. Artaban aber stand auf und stellte sich in den Eingang der Hütte, und seine breiten Schultern füllten die Tür von einem Balken zum anderen.

Die Soldaten mit ihren blutigen Händen und triefenden Schwertern zögerten beim Anblick des Fremden in seinem achtunggebietenden Kleid. Der Hauptmann erschien und machte Anstalten, Artaban zur Seite zu drängen. Doch Artabans Miene war so ruhig, als beobachte er die Sterne, und in seinem Blick brannte jene stetige Glut, vor der sich selbst der halbzahme Jagdleopard duckt. Schweigend hielt er den Soldaten für einen Augenblick gebannt, dann sagte er leise: »Ich bin allein in diesem Haus und warte darauf, dieses Kleinod dem klugen Hauptmann zu geben, der mich in Frieden läßt.«
Und er ließ den Rubin sehen, der in der Höhlung seiner Hand gleißte wie ein großer Blutstropfen. Vor dem Glanz des Juwels war der Hauptmann sprachlos. Die Pupillen seiner Augen weiteten sich vor Begehrlichkeit, und er streckte die Hand nach dem Rubin aus. »Weitersuchen!« rief er seinen Männern zu. »Hier ist kein Kind.«
Während Stimmengewirr und Waffenklirren sich die Straße hinab entfernten, wandte Artaban das Gesicht nach Osten und betete: »Gott der Wahrheit, vergib mir meine Sünde! Ich habe gesagt, was nicht wahr ist, um das Leben eines Kindes zu retten. Und zwei meiner Geschenke sind dahin. Ich habe für Menschen hingegeben, was für Gott bestimmt war. Werde ich jemals würdig sein, das Angesicht des Königs zu sehen?«
Doch die Frau, die im Schatten hinter ihm vor Freude weinte, sagte sacht: »Der Herr segne Euch und behüte Euch; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht auf Euch und gebe Euch Frieden.«

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