4.0 Zur Tradition des Herzensgebetes
4.1 Das Herz als körperliches Organ
und »innere Mitte«
Das Herz als unsere pochende Mitte ist das einzige innere Organ,
das wir mehr oder weniger ständig spüren. Hier wird das
ankommende Blut, der Lebenssaft, gewandelt und neu auf den Weg geschickt.
Diese leibliche Wirklichkeit verbindet sich mit der seelischen,
indem dem Herzen bestimmte Qualitäten zugeordnet werden: Hebräisches
Denken nennt das Herz den Ort der Vernunft, der Weisheit und des
Gewissens. Die abendländische Kultur hat dagegen im Herzen
eher das Gefühl lokalisiert. Beide Traditionslinien schließen
sich nicht aus, sondern gehören zusammen. Sie begegnen sich
in der Rede vom Herzen als der Mitte des menschlichen Wesens. Hier
sitzen die innere Motivation des Menschen, was immer jemanden drängen
und antreiben mag im Leben.
Zugleich gilt das Herz auch als Ort der Begegnung mit Gott. Um aber
zur Mitte des Menschen zu werden, muss das Herz auch als lebendige
Mitte wahrgenommen werden.
4.2 Zur Geschichte des Herzensgebetes
Das Herzensgebet hat seinen inneren Ausgangspunkt bei der Aufforderung
des Apostels Paulus: »Betet ohne Unterlass!« (1 Thess
5,17).
In Ägypten, wo das christliche Mönchtum seinen Anfang
nimmt, lebt und lehrt im 4. Jahrhundert Evagrios Pontikos, dessen
Lehre vom reinen, gedanken- und bildfreien Gebet unter Betonung
der Rolle des Herzens, eine der Grundlagen fürs Jesus-Gebet
bildet. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff der Hesychia, der
die Stille und Abgeschiedenheit bezeichnet, die zur Versenkung in
Gott vonnöten ist. Bei Abt Dorotheos aus Südpalästina
findet sich im 6. Jahrhundert zum ersten Mal die heutige Formulierung
des Jesus-Gebets in einer schriftlichen Quelle: »Herr Jesus
Christus, erbarme dich meiner.« Weitere bedeutende Lehrer
der hesychastischen Frömmigkeit in dieser Zeit: Johannes Klimakos
(gestorben 649) und Gregor vom Sinai (1255-1346).
Die zweite große Phase der Geschichte des Jesus-Gebetes ist
mit dem Berg Athos verbunden und findet ihren Höhepunkt mit
Gregor Palamas (1296-1359), der die bis dato äußerst
umstrittene Gebetsweise der Hesychasten theologisch untermauert
und damit zu ihrer Prägekraft für orthodoxes theologisches
Denken beiträgt. In der um 1400 entstandenen »Zenturie«
(Hundert-Sprüche-Lehre) des Kallistos und Ingnatios Xanthopulos
ist eine Art Zusammenfassung dieser Phase des Jesus-Gebetes gegeben.
In Russland erlebt das Herzensgebet seine dritte Blütezeit.
Zu nennen ist zuerst der hl. Nil Sorskij (1433-1508), der es vom
Berg Athos mitbrachte. Erneut großes Interesse findet das
Herzensgebet aber eigentlich erst vom ausgehenden 18. Jahrhundert
an. Aus dem Jahr 1792/93 stammt die Sammlung »Philokalie«,
mit Texten von mehr als dreißig Schriftstellern aus dem 3.
bis 15. Jahrhundert. Bezeugt wird der Aufschwung dieser Praxis des
Herzensgebetes in den »Aufrichtigen Erzählungen eines
russischen Pilgers«, deren erster Teil gegen 1874 erscheint.
4.3 Grundgedanke und biblische Fundierung
Im biblischen Verständnis ist der Name gleichbedeutend mit
der Macht und Ausstrahlung einer Person. Ihn zu nennen, »beschwört«
gleichsam den Geist seines Trägers hervor. Ausgehend von der
Anrufung Gottes im Alten und Neuen Testament, gibt das Neue Testament
Zeugnis von einigen Gebetsformeln wie z.B. »Gott, sei mir
Sünder gnädig« (Lk 18,9-14) oder »Jesus, Sohn
Davids, erbarme dich meiner« (Lk 18,38), die im Sinne von
Stoßgebeten gerade bei der Entwicklung einer monastischen
Gebetspraxis an Bedeutung gewinnen.
4.4 Religionsgeschichtliche Vergleiche
Als »Namensgebet« stellt das Jesusgebet die Frage nach
den religionsgeschichtlichen Parallelen bzw. nach den Entsprechungen
bei den außerchristlichen asiatischen Meditationsformen, die
schon in den »Aufrichtigen Erzählungen« zur Sprache
kommen. Der ununterbrochene Anruf des Gottesnamens ist der Kern
der Übung. Daher sind die Entsprechungen weniger im Zen oder
im Yoga zu suchen als vielmehr im dhikr der Sufis, im nama-japa,
dem Murmeln des Gottesnamens in der hinduistischen Überlieferung
und am stärksten wohl im nembutsu des Jodo-shin-shu, des Amida-Buddhismus.
Es ist bezeichnend, dass gerade der Shin-Buddhismus als Weg gläubigen
Vertrauens die größte Nähe zum Jesusgebet aufweist.
Dabei lassen sich bezüglich des Namensgebetes direkte Einflüsse
und Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Religionen kaum
nachweisen. Hier hat eine umfassende Theologie der Religionen das
klärende Wort zu sprechen.
4.5 Zur Praxis
Der Gebetsruf »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme
dich meiner« kann zunächst gesprochen werden oder aber
nur in der Stille gedacht werden; er verbindet sich mit Atem- und
Herzrhythmus, und wird so zu einem Beten mit Leib und Seele.
In Zeiten des Gebets sind wir konfrontiert mit einer Vielzahl von
Gedanken und Ablenkungen. Deshalb setzt die Praxis des Herzensgebetes
auf den Faktor Wiederholung: Was als mechanische Übung beginnt,
bekommt allmählich eine innere Qualität. Und so verbindet
sich mit der Wiederholung der Gebetsworte die Hoffnung, dass sich
das Gebet der Lippen zu einem Gebet des Herzens entwickelt.
Es ist wichtig, die Rhythmen des Körpers zu akzeptieren und
sie keiner gewaltsamen Angleichung zu unterziehen. Das ruhige, gleichmäßige
Sprechen des Gebets (mit den Lippen oder im Geist) hält Atemfluss
und Herzschlag beieinander. Die Worte des Gebetes muss jeder für
sich »anprobieren«, wenn auch nicht in zu raschem und
zu häufigem Wechsel. Einfache Variationen bestehen im Weglassen
einzelner Glieder, z.B. nur
· »Jesus Christus - erbarme dich« oder
· »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner«
oder
· »Jesus Christus« oder
· »Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich« usw.
Für die Regelmäßigkeit der Übung gilt: Es
ist besser, regelmäßig eine knapp bemessene Zeit auf
das Einüben zu verwenden, als überhaupt nicht zu üben
oder sich mit unrealistischen Forderungen unter Druck zu setzen.
Das Besondere am Herzensgebet ist, dass es, durch die Verbindung
von Atem, Herzschlag und Gebetswort, ausgehend von den Zeiten expliziter
Übung noch leichter als andere Meditationswege allmählich
den ganzen Alltag durchzieht.
5.0 Eine Geschichte zum Schluss - Die Macht des Wortes
Ein Meister hielt einen Vortrag über die Kraft des Gebetes,
und sagte: »Ein Mantra oder Gebet besitzt die Kraft, uns zu
Gott zu führen.« Da stand einer der Zuhörer auf
und rief: »Das ist Unsinn! Wie kann die Wiederholung von Worten
uns zu Gott bringen? Wenn wir immerzu ›Brot, Brot, Brot‹
wiederholen, wird daraus Brot entstehen?« Der Meister wies
ihn zurecht: »Setz dich, du Bastard!« Da fing der Mann
an zu zittern und wurde rot vor Wut: »Wie können sie
es wagen, so mit mir zu reden! Und Sie wollen ein heiliger Mann
sein. Unverschämtheit!« Der Meister sagte: »Entschuldigen
Sie, dass ich sie beleidigt habe. Doch sagen Sie mir bitte, was
fühlen Sie in diesem Augenblick?« »Sehen Sie nicht,
ich bin außer mir vor Entrüstung!« antwortete der
Mann. »Oh mein Herr, ich habe nur ein einziges Schimpfwort
gebraucht, und es hatte eine derart starke Wirkung auf Sie. Warum
fällt es Ihnen dann so schwer zu verstehen, dass die Wiederholung
des Namens Gottes Sie verändern und zu ihm führen kann?«
Quellenhinweise:
Zum Text 1.0 bis 3.2 vgl.: Emmanuel Jungclaussen, Aufrichtige Erzählungen
eines russischen Pilgers, vollständige Ausgabe, Freiburg 2000,
- die Überschriften wurden eingefügt. Zu den Ausführungen
in Punkt 4 vgl. Infos der
Universität
Marburg, und zu Punkt 5 vgl.: Öser D. Bünker, Die Güte
des Meisters wiegt mehr als ein Berg, Weisheitsgeschichten, Herder-Spektrum,
1998.
Weiterf�hrende Hinweise bietet diese
Zusammenstellung von Originaltexten.
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