Aristoteles - Leben, Werk und Einfluss
1.0 Das Leben des Aristoteles
Platons größter Schüler und Gegenspieler entstammte
einer Familie von Ärzten. Er wurde 384 v. Chr. in Stageira
in Thrakien, im Norden des heutigen Griechenland, geboren. In jungen
Jahren kam er nach Athen und war 20 Jahre lang Schüler der
platonischen Akademie. Zwischen dem damals schon in den Sechzigern
stehenden Platon und seinem mehr als 40 Jahre jüngeren genialen
Schüler scheinen sich, wie beim Aufeinanderprallen zweier Genies
zu erwarten, gewisse Gegensätze schon damals gezeigt zu haben.
1.1 Lehrer Alexanders des Großen
Nach Platons Tod lebte Aristoteles eine Zeitlang in Kleinasien
am Hofe eines früheren Mitschülers, der es dort inzwischen
zum Diktator gebracht hatte, und heiratete dessen Adoptivtochter.
Philipp, König von Makedonien, der Griechenland mit Gewalt
einigte, berief ihn dann an seinen Hof, um die Erziehung seines
Sohnes Alexander zu übernehmen, der nachmals der Große
genannt wurde.
1.2 Engagiert in Forschung und Lehre
Nach dem Regierungsantritt Alexanders kehrte Aristoteles nach Athen
zurück und eröffnete hier eine eigene Schule, Lykeion
(Lyzeum) genannt. In Athen entfaltete er eine ausgedehnte Forschungs-
und Lehrtätigkeit. Wahrscheinlich standen ihm dafür außer
seinem eigenen Vermögen reiche Mittel zu Gebote, die er von
Alexander erhielt. Aristoteles legte sich eine große Privatbibliothek
an, dazu eine naturwissenschaftliche Sammlung mit Pflanzen und Tieren
aus der ganzen damals bekannten Welt. Alexander soll seine Gärtner,
Jäger und Fischer angewiesen haben, Exemplare aller vorkommenden
Pflanzen- und Tierarten an Aristoteles zu senden. Zu Vergleichszwecken
ließ Aristoteles auch alle bekannten Staatsverfassungen sammeln,
insgesamt 158.
1.3 Politische Widerstände und Exil
Gegen Ende der zwölf Jahre, die Aristoteles seiner Schule
vorstand, geriet er in politische Bedrängnis dadurch, dass
auf der einen Seite sich sein Verhältnis zu Alexander trübte,
er aber andererseits in Athen als Freund Alexanders und der mazedonischen
Politik, die Athen seiner Freiheit beraubt hatte, heftig angefeindet
wurde. Nach dem frühen Tode Alexanders entlud sich in plötzlichem
Ausbruch der Hass gegen die »mazedonische Partei« in
Athen. Aristoteles wurde, wie Sokrates, der Gottlosigkeit angeklagt,
entzog sich aber dem drohenden Todesurteil durch die Flucht, um,
wie er sagte, den Athenern nicht zum zweiten Male Gelegenheit zu
geben, sich gegen die Philosophie zu versündigen. Im darauffolgenden
Jahre, 322 v. Chr., starb er vereinsamt im Exil. Es ist nichts Neues,
dass ein Staat seine besten Köpfe in die Verbannung treibt.
2.0 Das Werk des Aristoteles
Den Gelehrten des Altertums waren mehrere hundert Schriften Aristoteles
bekannt. Während seiner Lehrtätigkeit hielt Aristoteles
Vorlesungen vor einem kleineren Kreis Fortgeschrittener, daneben
volkstümliche Vorträge vor einem größeren Kreis.
Auch seine Schriften waren zum einen Teil solche, die nach der Art
der Darstellung für weitere Kreise bestimmt waren, zum anderen
rein fachwissenschaftliche, für den Gebrauch in der Schule
berechnet. Die ersteren, die im Altertum den platonischen Dialogen
an die Seite gestellt wurden, sind ganz verloren. Von den Fachschriften
ist ein Teil erhalten, der aber immer noch so umfangreich und vielseitig
ist, dass er eine Vorstellung von der Weite und der Größe
des ganzen Werkes vermittelt. Diese Schriften sind großenteils
nur notdürftig geordnet, schwierig zu lesen und daher auch
für längere wörtliche Anführungen nicht so geeignet
wie die Platons. Eine Ordnung des Erhaltenen nach der Entstehungszeit
ist nicht möglich. Die Werke können, nachdem durch eine
schwierige Forschungsarbeit das Echte vom Unechten gesondert ist,
nach ihrem Inhalt etwa in folgende Gruppen gegliedert werden:
2.1 Das Spektrum der Schriften
1. Schriften zur Logik: Kategorienlehre, die beiden Analytiken
(Lehre von den Schlüssen und von der Beweisführung), Topik
(enthält die »Dialektik« des Aristoteles). –
Diese logischen Schriften wurden schon im Altertum unter dem Namen
»Organon«, das heißt »Werkzeug« (zum
richtigen philosophischen Denken nämlich), zusammengefasst.
2. Schriften zur Naturwissenschaft: Physik (8 Bücher), Vom
Himmel, Vom Entstehen und Vergehen, Wetterkunde (Meteorologie).
Über die Lebewesen handeln: mehrere Schriften über die
Seele (auch über das Gedächtnis und über Träume),
Tierbeschreibung, Von den Teilen der Tiere, Vom Gang der Tiere,
Von der Entstehung der Tiere.
3. Schriften zur Metaphysik. Unter diesem Namen ordnete ein antiker
Herausgeber der Werke des Aristoteles die Schriften ein, in denen
von den allgemeinen Ursachen der Dinge gehandelt wird. Sie standen
in seiner Sammlung hinter den Naturwissenschaften, hinter der Physik,
griechisch: meta ta physika. Diese rein äußerliche Kennzeichnung
wurde im Laufe der philosophischen Entwicklung der Spätantike
umgedeutet in »das über die Natur (Physik) Hinausgehende«,
»das jenseits der Natur Liegende«. Seither versteht
man unter Metaphysik die philosophische Disziplin, die nicht die
einzelnen Dinge, sondern die Dinge in Hinsicht auf ihr Dingsein,
»das Seiende als Seiendes«, zu erkennen sucht.
4. Schriften zur Ethik, die 10 Bücher der sogenannten nikomachischen
Ethik, benannt nach Aristoteles‘ Sohn Nikomachos.
5. Schriften zur Politik, 8 Bücher
6. Schriften zur Literatur und Rhetorik, 3 Bücher über
die Redekunst, eines über die Dichtkunst.
2.2 Ein Vergleich mit Platon
Zwischen dem nüchternen, auf Sammlung und Katalogisierung
alles Bestehenden und auf streng logische Beweisführung ausgehenden
Geiste des Aristoteles und der dichterisch beflügelten, auf
das Schöne und Ideale gerichteten Phantasie Platons besteht
ein tiefgreifender Unterschied. Der gleiche Unterschied tritt beim
Vergleich der Lebenswerke beider in Erscheinung. Aristoteles ist
in erster Linie Wissenschaftler. Er ist es freilich in einem umfassenden
Sinne: Sein Forscherdrang erstreckt sich auf alle Gebiete wissenschaftlichen
Erkennens, und über der Sammlung und Beschreibung von Tatsachen
erblickt auch er in der philosophischen Erkenntnis, die alles Bestehende
unter einheitliche Prinzipien ordnet, die Krone des Wissens. Sein
Werk ist eine geistige Welteroberung, in ihrer Art nicht weniger
großartig und für die Geschichte der Menschheit ebenso
erfolgreich wie die Siege seines welterobernden Schülers Alexander.
Mit Aristoteles beginnt die heute ins Bedrohliche gewachsene »Verwissenschaftlichung«
der Welt. Die Probleme der richtigen Zuordnung und Interpretation
der Werke sind zahllos und bestehen zum Teil auch heute.
3.0 Anthropologie, Ethik und Politik
3.1 Der Mensch
Mit den Funktionen des Leibes und seinen niederen Seelentätigkeiten
steht der Mensch in der Reihe der anderen Lebewesen. Aber sie sind
seiner höheren Bestimmung angepasst. Hände, Sprechwerkzeuge,
der aufrechte Gang, die Größe des Gehirns deuten darauf
hin. Zu den niederen Seelentätigkeiten aber tritt nun der Geist
(Nous).
Es wurde schon gesagt, dass Aristoteles der sinnlichen Wahrnehmung
vertraut. Aber die Einzelsinne unterrichten uns jeweils nur über
die Eigenschaften der Dinge, auf die sie sich speziell beziehen:
das Auge über Farben, das Ohr über Töne usw. Das
Zusammenfügen der Informationen, die die Einzelsinne liefern,
zu einem einheitlichen Bild der Wirklichkeit ist das Werk eines
besonderen, den Einzelsinnen übergeordneten »Allgemeinsinns«
– wir würden wohl von »Vernunft« sprechen.
Dessen Sitz verlegt Aristoteles in das Herz.
Der Geist ist unsterblich und vergeht nicht mit dem Leibe. Wie
aber der reine Geist vor der Geburt und nach dem Tode existiert
und in welcher Weise sich im lebenden Menschen der Geist mit den
unteren Funktionen zur einheitlichen Persönlichkeit verbindet,
darüber hat sich Aristoteles nicht eindeutig ausgesprochen.
3.2 Die Tugend
Aristoteles bezweifelt sowenig wie irgendein anderer Hellene, dass
das höchste Gut des Menschen die Glückseligkeit sei. Für
jedes Lebewesen besteht die Vollkommenheit in der vollkommenen Ausbildung
der ihm eigentümlichen Tätigkeit. Da der Mensch in erster
Linie Vernunftwesen ist, ist Vollkommenheit für ihn die höchste
Ausbildung dieses seines Wesens. Darin besteht die Tugend. Der doppelten
Natur des Menschen entsprechend scheidet Aristoteles zwei Arten
von Tugend. Die ethischen Tugenden bestehen in der Herrschaft der
Vernunft über die sinnlichen Triebe. Die dianoetischen Tugenden
bestehen in der Steigerung und Vervollkommnung der Vernunft selbst.
Die letzteren sind die höheren.
3.3 Der Staat
Der Mensch ist ein zoon politikon, ein geselliges (politisches)
Lebewesen. Er bedarf zur Erhaltung und Vervollkommnung des Lebens
der Gemeinschaft mit anderen. Wie für Platon ist die sittliche
Gemeinschaft der Bürger in einem auf Gesetz und Tugend gegründeten
guten Staat auch für Aristoteles die höchste und eigentliche
Form der Sittlichkeit. Politik ist nichts anderes als angewandte
Ethik. Die Betrachtung der Tugend ist nur die Vorstufe und der theoretische
Teil der Ethik, die Staatslehre aber ist ihr angewandter und praktischer
Teil.
3.3.1 Mögliche Regierungsformen und deren Entartung
Auch Aristoteles gibt sowohl eine Kritik der bestehenden und möglichen
Staatsverfassungen wie eine Darstellung des idealen Staatswesens.
Unter den Verfassungen unterscheidet er in hergebrachter Weise nach
der Zahl der Herrschenden die Monarchie als Herrschaft eines einzelnen,
die Aristokratie als Herrschaft weniger, die »Politie«
als Herrschaft vieler. Diesen stehen als Entartungen dieser Formen
gegenüber Tyrannis, Oligarchie, Demokratie. Unter den drei
Formen gibt er nicht einer einzigen den unbedingten Vorzug, sondern
stellt fest, dass die Verfassung sich nach den konkreten Bedürfnissen
des betreffenden Volkes und der betreffenden Zeit richten müsse.
3.3.2 Auf der Suche nach der idealen Staatsform
Das wird meistens auf eine gesunde Mischung der Formen hinauslaufen,
wobei am günstigsten aristokratische und demokratische Elemente
so zu mischen sind, dass der Mittelstand den Schwerpunkt des Staatswesens
bildet. Damit werden Stetigkeit und Vermeidung von Extremen am besten
gesichert. Seine Lehre vom idealen Staat hat Aristoteles nicht vollendet.
Mit Platon stimmt er darin überein, dass er sich den Idealstaat
nur in den räumlich begrenzten Verhältnissen eines griechischen
Stadtstaates vorstellen kann. Etwas anderes zieht er gar nicht in
Betracht. Offenbar hatte er in diesem Punkte die Zeichen der Zeit,
die auf große Reichsbildungen deuteten, nicht verstanden und
hing im Grunde seines Herzens, trotz seines Eintretens für
die makedonischen Könige, an den staatlichen Formen der griechischen
Vergangenheit.
3.3.3 Differenzierungen im Vergleich zu Platon
Die Sklaverei erscheint ihm übrigens so naturgegeben wie den
meisten seiner Landsleute. Ehe, Familie und Gemeinde bewertet er
sehr hoch. Er zeigt, dass Platons Forderung, Ehe und Privateigentum
dem Staat zum Opfer zu bringen, nicht nur unausführbar sei,
sondern auch fälschlicherweise den Staat als ein einheitliches
Wesen, aus Einzelmenschen gebildet, ansehe, während in Wahrheit
die staatliche Gemeinschaft ein in Untergemeinschaften gegliedertes
Ganzes sein müsse.
4.0 Die Theologie
4.1 Gott als unbewegter Beweger
Wo Form und Stoff sich berühren, entsteht Bewegung. Denn nicht
nur wirken die formenden Kräfte auf den Stoff ein, dieser hat
sogar seiner Natur nach ein Verlangen nach den Formen als dem Guten
und Göttlichen. Da Form und Stoff von Ewigkeit her aufeinander
wirken, ist auch die Bewegung ohne Ende. Da aber Bewegung immer
ein Bewegendes und ein Bewegtes erfordert, so muss der Anstoß
einmal von einem Bewegenden ausgegangen sein, das selbst nicht bewegt
ist. Das kann nur die reine Form ohne Stoff sein. Reine Form aber
ist das schlechthin Vollkommene. Schlechthin Vollkommenes kann es
nur eines geben. So lehrt Aristoteles eine Gottheit, die reines
Denken, reiner Geist ist. Gott denkt nur das Höchste und Vollkommenste,
und da er das Vollkommene selbst ist, denkt er sich selbst. Ein
Kritiker sagt über diesen Gott des Aristoteles: »Er ist
unverbesserbar vollkommen, kann deshalb nichts begehren, weshalb
er auch nichts tut ... Seine einzige Beschäftigung ist, sich
selbst zu betrachten. Der arme aristotelische Gott! Er ist ein roi
fainéant, ein nichtstuerischer König – ›Der
König herrscht, aber er regiert nicht‹ – Kein Wunder,
dass die Briten Aristoteles so lieben, sein Gott ist offenkundig
ihrem König nachgebildet.« (Durant, Denker, S. 70)
4.2 Begriffliche Schwierigkeiten
Dieser Abriss zum Thema Metaphysik vereinfacht bis hart an die
Grenze des Zulässigen. Das ist kaum zu vermeiden, weil das
Denken des Aristoteles sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt und
damit wandelt (...) . Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, die
von Aristoteles gebrauchten griechischen Begriffe richtig zu übersetzen
bzw. zu interpretieren. So wird etwa »ousia« meist mit
lat. »Substanz« wiedergegeben, obwohl im griechischen
Wort auch lat. »essentia« (Wesen) mit enthalten ist.
Ähnliche Deutungsschwierigkeiten bietet das Wort Metaphysik.
Abgesehen davon, ob »meta« hier »nach (dem Bereich
der Natur, des Physischen) abgehandelt« oder »jenseits
dieses Bereiches liegend« bedeutet – Aristoteles meint
offenbar manchmal das Studium des Seienden als solchem (unterschieden
vom Studium einzelner Seinsbereiche), ein andermal aber das Wissen
vom unveränderlich Seienden – und damit Theologie –,
eine Doppelbedeutung, die dieser Begriff bis heute nicht ganz verloren
hat.
Ines Hofwimmer (Mai 2003, 2AKO)
Quelle: Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie,
Franfurt 1999, 194-209
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