Hirnforschung - Wo ist Gott?
1.0 Auf der Suche nach den biologischen Grundlagen des Glaubens
Die einschneidendste Erfahrung ihres Lebens machte Eleanor Rosch,
als sie zum Totenbett ihres tibetischen Meisters gerufen wurde.
Kaum hatte die Kognitionspsychologin den Raum betreten, in dem der
wenige Tage zuvor gestorbene Lama aufgebahrt worden war, spürte
sie eine intensive geistige Präsenz, die von dem toten, in
Meditationshaltung sitzenden Körper ausging.
»Es war, als ob der Geist von seiner leiblichen Hülle befreit wäre
und umittelbar zu uns spräche«, erinnert sich Rosch.
Sie hätte die Gegenwart ihres Lehrers stärker als je zuvor
gespürt - »als sei der Körper nur ein Filter gewesen,
der plötzlich weggefallen ist.«
Eine Esoterikerin kann man Eleanor Rosch nicht gerade nennen. Die
zierliche Dame ist Professorin an der University of California in
Berkeley, hat dort das Programm der Kognitionsforschung mitbegründet
und ein viel beachtetes Buch über Hirnforschung geschrieben.
Ihr kleines Büro an der amerikanischen Elitehochschule wirkt
ebenso nüchtern wie die Räume ihrer Kollegen: Schreibtisch,
Computer und Regale voller wissenschaftlicher Fachpublikationen.
Doch parallel zu ihrer Forschung praktiziert sie seit Jahren tibetischen
Buddhismus und versucht, diese Erfahrung mit ihrem wissenschaftlichen
Weltbild zu versöhnen. Erlebnisse wie jenes mit dem toten Lama
haben sie dabei zu der Überzeugung gebracht, dass der modernen
Naturwissenschaft bislang Entscheidendes entgeht: »Unser Körper
und unser Geist sind nicht das, wofür sie die Wissenschaft
hält.«
Mit dem Versuch, ihre spirituellen Erfahrungen auch wissenschaftlich
ernst zu nehmen, steht Eleanor Rosch nicht allein. Eine ganze Schar
von Neurobiologen, Psychologen und Medizinern beschäftigt sich
inzwischen mit buddhistischen Meditationspraktiken, christlichen
Ekstasen und anderen erhebenden Zuständen.
So hat der Radiologe Andrew Newberg von der Universität Pennsylvania
die Hirne meditierender Mönche in einem Kernspintomografen durchleuchtet
und schließt daraus, dass unsere Gehirne auf den Glauben an
höhere Mächte programmiert seien. Im Mind & Life Institute
in Boulder, Colorado, treffen sich derweil Hirnforscher regelmäßig
mit dem Dalai Lama, um über höhere Bewusstseinszustände
zu diskutieren. Und der Neurobiologe John Austin hat sich auf einen
langen Selbsterfahrungstrip in japanische Zen-Klöster begeben
und versucht in seinem 800-Seiten-Wälzer »Zen and the Brain«,
die Grundzüge einer Erleuchtungstheorie zu skizzieren.
Schon kursiert das Schlagwort von der Neurotheologie, und manche meinen gar,
die moderne Hirnforschung liefere endlich das, wonach Philosophen und Theologen
jahrhundertelang vergeblich gesucht haben: den ultimativen Gottesbeweis.
Doch davon kann keine Rede sein. Zwar bieten die Forschungen für
manches mystische Grenzerlebnis eine einleuchtende Erklärung,
und mitunter ist die moderne Hirnforschung sogar überraschend
kompatibel mit jahrtausendealten spirituellen Weisheiten. Doch bislang
haben die Mystikforscher keine einheitliche Theorie vorzuweisen.
Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der simplen Frage, ob jede
Religion gesondert untersucht werden muss oder ob alle spirituellen
Traditionen einen gemeinsamen Kern haben. Während Neurotheologen
wie Andrew Newberg an einen gemeinsamen Kern glauben und diese Überzeugung
zur selbstverständlichen Grundlage ihrer Forschungen machen,
sind andere Forscher wie Eleanor Rosch eher skeptisch. »Sicher
gibt es starke Gemeinsamkeiten zwischen den Weltreligionen«,
sagt die Berkeley-Psychologin, »doch zugleich sind die Zugänge
dazu höchst unterschiedlich.« So ist zum Beispiel die
Differenz zwischen einem als persönlich verstandenen Gott christlicher
Prägung und der abstrakten »Leerheit«, die der
Buddha predigte, unübersehbar - von gröberen Verwerfungen
wie Kreuzzügen und heiligen Kriegen zwischen manchen Glaubenssystemen
ganz zu schweigen. Auch innerhalb der einzelnen Religionen herrscht
selten gottgefällige Einigkeit. Ausgerechnet die charismatischsten
Mystiker geraten leicht mit den jeweils herrschenden religiösen
Dogmen in Konflikt - ob sie nun Jesus, Buddha oder Mohammed heißen.
Lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten zwischen den religiösen
Traditionen finden, liegt ihnen gar dieselbe mystische Erfahrung
zugrunde? Diese Frage beantwortet Eleanor Rosch mit einer ebenso
simplen Gegenfrage: »Wer kann das schon mit Sicherheit sagen?«
In der Tat. Um über das Ziel der unterschiedlichen spirituellen
Wege verlässlich Auskunft geben zu können, müsste
man sie alle selbst bis zu Ende gegangen sein - wofür kein
Menschenleben ausreicht. Die meisten Neurotheologen stützen
ihre religiösen Kenntnisse denn auch nicht auf eigene Erfahrungen,
sondern vor allem auf die schriftlichen Zeugnisse von Mystikern,
Heiligen oder Zen-Meistern. Doch diese geben, wie schon der Pionier
der Religionspsychologie, William James, vor 100 Jahren erkannte,
das eigentlich Wesentliche der Unio mystica oder der buddhistischen
Leerheit nur höchst unzureichend wieder.
In seinem Monumentalwerk über die Spielarten religiöser
Erfahrungen (»The Varieties of Religious Experience«,
publiziert 1902) stellte James fest, dass alle mystischen Erlebnisse
zwei charakteristische Merkmale aufweisen: Sie vermitteln zum einen
eine »noetische« Qualität, das Gefühl, plötzlich
tiefe Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos zu gewinnen
und einer anderen, »echteren« Realität zu begegnen.
Da sie jedoch per definitionem außerhalb der gewöhnlichen
Wahrnehmung liegen, können sie zum anderen in der normalen Sprache
höchst ungenügend vermittelt und nur durch eigenes Erleben
vollständig erfasst werden.
2.0 Wissenschaft oder Zwangsneurose?
Kein Wunder, dass Themen wie Glaube oder Erleuchtung in der Naturwissenschaft
lange Zeit streng verpönt waren.
Zwar sind noetische Erlebnisse
auch Wissenschaftlern nicht unbekannt. So schrieb etwa Albert Einstein:
»Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren
können, ist die Wahrnehmung des Mystischen. Sie ist die Quelle
aller wahren Wissenschaft.« Doch solche Aussprüche sind
nur den Altmeistern der Zunft erlaubt. Im alltäglichen Forschungsbetrieb
behält man ähnliche Ansichten besser für sich. Anders
als die Religion lebt die Wissenschaft eben nicht vom Glauben, sondern
vom steten Zweifel. Wer da im Labor das Vertrauen in höhere
Mächte beschwört, macht sich schnell lächerlich.
Mit der Entstehung der Psychologie kam das strenge Diktum Sigmund
Freuds hinzu, der Religion als »universelle Zwangsneurose«
bezeichnete und sie als Rückfall in eine kindliche Erwartungshaltung
gegenüber einem allmächtigen Wesen deutete - als zwar
verständlichen, aber unreifen Versuch, mit Lebensstress und
Todesangst umzugehen.
Fragt man Wissenschaftler jedoch nach ihrem ganz persönlichen
Weltbild, sieht die Sache anders aus. Bei Umfragen in den USA geben
konstant rund 40 Prozent aller Forscher an, in irgendeiner Form
an Gott zu glauben. Kein Wunder, dass trotz 300 Jahren Aufklärung
der Drang nicht verstummt, das Unaussprechliche in Worte zu fassen.
Dazu kommt der gewaltige Aufschwung, den die Hirnforschung in den
vergangenen Jahrzehnten genommen hat. Mit ihren bildgebenden Verfahren,
die Einblicke ins arbeitende Gehirn erlauben, wagen sich die Naturwissenschaftler
mittlerweile an Themen, die früher allein in die Zuständigkeit
der Philosophen und Theologen fielen - dazu gehört die Frage
nach dem freien Willen ebenso wie die Erklärung normaler (und
»höherer«) Bewusstseinszustände.
Am weitesten vor wagt sich dabei Andrew Newberg, der mit seinem
(mittlerweile gestorbenen) Mentor Eugene d'Aquili an der Universität
Pennsylvania versuchte, das Numinose im Kernspintomografen festzuhalten.
Dazu baten die beiden Forscher Buddhisten zur Meditation und Franziskanernonnen
zum Gebet in ihr Labor. Jeweils auf dem Höhepunkt der meditativen
Ekstase leiteten sie über eine Kanüle Kontrastmittel in
die Adern ihrer Probanden, um damit den jeweiligen Durchblutungszustand
der Gehirne festzuhalten. Die anschließende Aufnahme mit einer
Spezialkamera zeigte: In der geistigen Versenkung verringert sich
deutlich die neuronale Aktivität in einem Hirnareal im Hinterkopf,
das normalerweise für die räumliche Orientierung zuständig
ist.
Aus diesem eher bescheidenen Befund zieht Newberg weitreichende Schlussfolgerungen:
Die verringerte Aktivität im Orientierungsareal sorge dafür,
dass das Gehirn nicht mehr zwischen den Grenzen des Individuums und
der äußeren Welt unterscheiden könne; ergo bleibe
ihm nur, »den subjektiven Eindruck völliger Raumlosigkeit
zu erzeugen, den der Geist als unendlichen Raum und als Ewigkeit interpretiert«
- der Meditierende gehe gleichsam im Universum auf, erlebe den Zustand
des »absoluten Eins-Seins«, den Mystiker immer wieder
beschreiben. Mit seinen Arbeiten, so meint Newberg in seinem Buch
»Why God Won't Go Away«, hätte er diese mystischen
Zeugnisse auf ein neurobiologisches Fundament gestellt und damit gezeigt,
dass der Glaube an Gott schon allein deshalb nicht verschwinden werde,
weil das menschliche Gehirn für solche Erfahrungen ausgelegt sei.
Diese These hat dem Radiologen aus Pennsylvania zwar zu einer gewissen
Popularität verholfen, aber ihm nicht unbedingt den Beifall
der Fachkollegen verschafft. Eleanor Rosch beispielsweise hält
Newbergs Erklärungen schlicht für »Unsinn«.
Das Ergebnis seiner Experimente sei, für sich genommen, äußerst
nichtssagend. »Der einzige Grund, dass sich überhaupt
jemand dafür interessiert, ist die Tatsache, dass man ihnen
das Etikett Neurotheologie verpasst hat, das ebenso sexy wie unangemessen
ist«, wettert die Kognitionsforscherin.
3.0 Mystische Ekstase im Hinterkopf
Tatsächlich beruht der Großteil von Newbergs Theorie
auf Spekulation. Dass sich aus den farbigen Flecken in den Gehirn-Scans
der Zustand »absoluten-Eins-Seins« ablesen lasse, ist
eine ebenso kühne wie unbewiesene Behauptung. Möglicherweise
ist die verringerte Orientierungsaktivität nur eine harmlose
Begleiterscheinung der Meditation.
Verwegen ist auch die Annahme,
der Verlust des Selbst sei auf das Wirken eines einzigen Hirnareals
zurückzuführen. Unser Empfinden als Individuum hängt
schließlich nicht nur von der räumlichen Orientierungsfähigkeit
ab, sondern auch von vielen anderen Faktoren wie Körpergefühl,
Emotionen und Selbst-Bewusstsein. Auch die Auflösung des normalen
Zeitgefühls, zentrale Erfahrung mystischer Ekstasen, lässt
sich kaum auf das räumliche Orientierungsareal zurückführen.
Und warum dessen verringerte Aktivität zu jenem allumfassenden
Glücksgefühl führen soll, das in der Unio mystica
erfahren wird, bleibt völlig ungeklärt.
Solche voreiligen Schlüsse kann man dem amerikanischen Neurologen
James H. Austin kaum vorwerfen. Sein Buch »Zen and the Brain«,
die Bilanz von rund dreißigjähriger Forscherarbeit, ist
der wohl anspruchsvollste Versuch, außergewöhnliche Bewusstseinszustände
im Rahmen der modernen Hirnforschung zu beschreiben. Dafür hat
Austin keine Mühe gescheut, sich selbst in mehreren Aufenthalten
in Japan der oft peinsamen Zen-Praxis unterzogen und nach acht Jahren
tatsächlich die (wenn auch kurzzeitige) Erfahrung einer »absoluten
Realität, inneren Richtigkeit und endgültigen Perfektion«
gemacht.
Solche Erlebnisse verbindet der (mittlerweile emeritierte) Hirnforscher
in seinem Buch mit einer beeindruckenden Fülle neuroanatomischer,
-biologischer und pharmakologischer Fakten. Den Zustand der Erleuchtung
führt er dabei (ähnlich wie Newberg) auf einen Verlust
des egozentrierten Selbstbildes zurück, der »Ich-mich-mein-Perspektive«,
wie Austin dies nennt. Doch zugleich zeigt er, dass für diese
Selbstaufgabe eben nicht (wie Newberg es tut) ein einziges Hirnareal
verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass daran mindestens
drei Hirnbereiche – die Amygdala, der Hypothalamus und das
Mittelhirn – beteiligt sind.
Was dabei aber genau geschieht, kann Austin auch nach fast dreißigjähriger
Forschung nicht wirklich sagen:
»Was haben wir gefunden? Komplexe
Verhältnisse«, resümiert er sein 800-Seiten-Werk.
Leider gebe es »keinen einzigartigen Rosetta-Stein, der die
subtil kodierte Sprache des Gehirns in die direkte persönliche
Erfahrung außergewöhnlicher Bewusstseinszustände
übersetzen könnte«, schreibt er am Ende desillusioniert.
Wer immer in Zukunft den Versuch unternehme, ein aussagekräftigeres
Buch zu schreiben, so gibt Austin möglichen Nachahmern mit
auf den Weg, sollte idealerweise »ein völlig erleuchteter
japanischer Zen-Meister sein, der fließend Englisch spricht,
eine Person, die sowohl in Neurophysiologie promoviert habe, praktische
Erfahrung mit psychophysiologischer Forschung besitze, im interkulturellen
Austausch geübt sei und zudem noch als Arzt sowohl in der Neurologie
wie der Psychiatrie praktiziert habe«. Fragt sich nur, ob
so eine mehrfach erleuchtete Person noch den profanen Wunsch verspürt,
ein allgemein verständliches Buch zu verfassen.
»Vielleicht mehr als alle anderen subjektiven Phänomene
entziehen sich mystische Erfahrungen der strengen wissenschaftlichen
Untersuchung«, schließt auch der Religionspsychologe
David Wulff, der in seinem Standardwerk Psychology of Religion (Wiley)
den wohl gründlichsten Überblick über den Stand der
derzeitigen Mystikforschung liefert. Die Schwierigkeit bestehe nicht
nur darin, dass sich die schwer greifbaren Erleuchtungserlebnisse
meist der Logik des menschlichen Denkens entzögen, sondern
auch darin, dass sich ihre Erforscher (wenigstens zum Teil) auf
sie einlassen müssten, um sie wirklich zu verstehen. Das aber
habe häufig zur Folge, dass unvoreingenommene Wissenschaftler
nach und nach zu Gläubigen mutierten und damit ihre Objektivität
einbüßten.
Beispiele dafür gibt es zuhauf: etwa
den Psychiater Stanislav Grof, der ursprünglich nur das therapeutische
Potenzial psychedelischer Drogen erforschen wollte und dabei immer
mehr von der Existenz höherer Bewusstseinszustände überzeugt
wurde, bis er schließlich die esoterisch anmutende Transpersonale
Psychologie begründete; oder den Harvard-Psychiater John Mack,
der so lange Patienten behandelte, die behaupteten, von Außerirdischen
entführt worden zu sein, bis er selbst von der Existenz der
Extraterrestrischen überzeugt war.
Forscher, die sich in mystische Gefilde vorwagen, haben nur zwei
Möglichkeiten, meint David Wulff: »Entweder sie bleiben
Außenseiter, deren Aussagen von den Insidern vermutlich als
unverständig und damit irrelevant angesehen werden; oder sie
werden selbst Insider und riskieren damit nicht nur den Verlust
der kritischen Distanz, sondern auch den ihrer Glaubwürdigkeit.«
Die Berkeley-Psychologin und praktizierende Buddhistin Eleanor
Rosch hat für sich die Entscheidung schon gefällt:
Sie betrachtet ihre spirituelle Praxis längst nicht mehr mit dem
strengen Blick der Wissenschaft, sondern umgekehrt die Wissenschaft
mit den sanften Augen der Spiritualität. Und aus dieser Perspektive
sieht so manches anders aus.
»Die spannende Frage ist nicht, wie und aus welchen Elementen Erleuchtung
entsteht, sondern vielmehr: Wie kommt es, dass unser ursprüngliches,
erleuchtetes Bewusstsein immer weiter eingeengt wurde, sodass wir in einer Welt
voller Illusionen leben?«
In der wissenschaftlichen Fachliteratur, so viel ist sicher, findet sie darauf
keine Antwort.
Ulrich Schnabel (nach einer unbekannten Quelle), weitere Anstöße
zur Thematik finden sich
hier.
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