Hinduismus - Geschichte, Gesellschaft, Spiritualität
1.0 Entstehung und Geschichte
Der Hinduismus beeinflusst das ganze Leben von der Geburt bis
zum Tod. Religion und Alltag sind nicht voneinander zu trennen.
Der Hinduismus ist keine Sonntags-Religion.
Der frühe Hinduismus (auch Brahmanismus genannt) entstand
zwischen 1000 und 200 v.Chr. Die Gottheiten des frühen Hinduismus
der vedischen Zeit waren vor allem Agni, der Gott des Opferfeuers,
Surya, der Sonnengott, und Indra, der Gewitter- und Regengott. Es
gab 1028 Opfergesänge zur Anrufung der Götter.
Im 8.Jh.v.Chr. wurden die Upanishaden, die ältesten philosophischen
Schriften der Inder und wahrscheinlich auch der ganzen Menschheit,
aufgeschrieben, einhergehend mit einer Veränderung des Brahmanismus
in Richtung des heutigen Hinduismus. Buddhismus, Jainismus und später
der Islam, übten ihren Einfluss auf den Hinduismus aus, dem
es aber bis heute immer wieder gelang, neue Denkanstöße
zu integrieren. So wurde z.B. im Denken der Hindus aus Buddha einfach
eine Inkarnation Vishnus. Auf diese Weise wurden fremde Einflüsse
oder neue Entwicklungen in ein bestehendes System integriert.
1.1 Das eine Göttliche und die vielen Götter
Es braucht also keinen zu verwundern, wenn er bei gläubigen Hindus
gleichzeitig Bilder von Vishnu, Shiva, Buddha und Jesus einträchtig
nebeneinander an der Wand findet. Hindus würden nie auf die Idee
kommen, einen Christen zum Hinduismus bekehren zu wollen; der Missionsgedanke
ist ihnen fremd. Für sie gibt es viele Wege, Erleuchtung, Erlösung,
Nirvana, oder Moksha – oder wie die vielen anderen Namen für
das einzig angestrebte Ziel heißen – zu erreichen.
Jedem Hindu ist es auch freigestellt, den Gott zu verehren, der ihm am besten
gefällt oder gerade Abhilfe in der momentanen Problemlage schaffen
kann. So wird jemand vielleicht Ganesh den beliebten Gott mit dem
Elefantenkopf und dem dicken Bauch, anbeten, weil er alle Hindernisse
aus dem Weg schaffen kann und als Gott der Weisheit gilt. Bei finanziellen
Problemen wendet man sich dagegen an einen anderen, speziell dafür
zuständigen Gott. Für den Hindu sind die verschiedenen Gottheiten
nur Ausdruck und Manifestationen der verschiedenen Aspekte des Göttlichen.
Wie schon betont, werden Brahma, Vishnu, Lakshmi, Parvati oder
Kali nicht als mehrere nebeneinander existierende Götter verstanden,
sondern sind letzten Endes nur Manifestationen und Symbole für
das Absolute, das für den Verstand nicht mehr fassbar ist,
für das Brahman oder Atman. Brahman wird gemeinhin als Weltseele
definiert, während Atman die Einzelseele darstellt. Mit dem
Verhältnis Atman zu Brahman beschäftigen sich vor allem
die Upanishaden.
1.2 Vielfalt spriritueller Zugänge
Der Hinduismus schließt alles ein, sowohl den Glauben und
die Begegnung mit einem oder auch mehreren Göttern, als auch
die buddhistische Position, dass es keinen Gott gibt; dafür
gibt es dann bei den Buddhisten die Erleuchtung und das Nirvana
und bei den Hinduisten das Brahman. Deshalb gibt es auch so viele
Untergruppen, die von streng asketischen, triebunterdrückenden
Positionen bis zu einer tantristischen Position, die sexuelle Energie
als Mittel zur Erreichung des Ziels einsetzt, reichen.
1.3 Karma, Wiedergeburt und Erlösung
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Hinduismus ist das Wissen
um die Wiedergeburt: Jedes Lebewesen hat eine unsterbliche Seele
(atman), die darauf drängt, nach dem Tode wiedergeboren zu
werden. Je nach dem persönlichen Karma, d.h. nach den positiven
und negativen Handlungen, Gedanken und Motiven, wird jeder in einer
bestimmten Gestalt wiedergeboren. Da auch die Möglichkeit einer
Wiedergeburt als Tier besteht, sind strenggläubige Hindus gegen
jegliches Töten von Tieren.Der Wunsch aller Hindus ist es,
diesem ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu entkommen und
das Einswerden mit Brahman, dem Ewigen und Absoluten, zu erreichen.
Meditation, Yoga, Askese sind Hilfsmittel auf diesem Weg wie auch
die Arbeit mit einem Guru.
1.4 Im Einklang mit der »ewigen Ordnung« (dharma)
Der Hindu versucht, dem Dharma (Gesetz) entsprechend zu leben.
Das Dharma beschreibt die moralischen und sittlichen Werte, das
gesellschaftliche Leben, die Regeln der Kaste und auch das universelle
Gesetz. Das universelle Dharma erklärt für den Hindu auch,
dass wir zur Zeit im Kaliyuga leben, einem Zeitalter, das mit dem
Niedergang der Werte und der Hinwendung zum Materiellen verbunden
ist. So wie das menschliche Leben Tod und Wiedergeburt unterworfen
ist, ist auch das Universum einem solchen Wechsel unterworfen. Auf
Zeiten, in denen sich die Menschheit ganz im Materiellen zu verlieren
droht, folgen spirituelle Perioden, in denen die Menschheit höhere
geistige Fähigkeiten besitzt und das geistige Leben eine neue
Blüte erreicht (»goldenes Zeitalter«).
1.5 Einteilung und Sicht des Lebens
Zu früheren Zeiten war das Leben des Hindus in vier Phasen
unterteilt: Kindheit, Zeit des Lernens, Zeit der Familiengründung
und des Besitzerwerbens und die Phase, in der jeglicher weltlicher
Besitz aufgegeben wurde, um sich ganz dem Spirituellen zu widmen.
Aus dem Wissen um die Wiedergeburt ergibt sich auch ein ganz anderes
Verhältnis zum Tod. Der Tod ist etwas Natürliches, der
alte Körper wird aufgegeben, und die Seele wartet auf ihre
neue Inkarnation in einem neuen, jungen Körper. Die Seele ist
ewig, sie ist Teil des Höchsten, aber auch getrennt davon,
und dies ist der Grund für das Verbleiben im Samsara, im ewigen
Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Sie muss immer wiederkehren,
um sich in immer reinere und bewusstere Formen zu verwandeln und
am Ende zu ihrem Ursprung zurückzukehren, wieder eins zu werden
mit dem Brahman. Alles Leben führt zu diesem Ziel hin, und
die Menschen wissen, dass selbst ein Buddha Hunderte von Leben brauchte,
um zum Buddha, zum Erleuchteten, zu werden. Warum deshalb unglücklich
sein mit dem jetzigen Leben? Der in diesem Glauben lebende Inder
ist voller Zuversicht und kann auch noch im größten Elend
glücklich sein.
2.0 Die wichtigsten Gottheiten des hinduistischen Pantheons
2.1 Brahma - der Schöpfer der Welt
Brahma gilt als Schöpfergott. Er wird mit vier Köpfen
dargestellt, die seinen vollständigen Überblick als Weltenschöpfer
symbolisieren. Jedem Gott ist ein Reittier zugeordnet. Brahmas Reittier
ist Hamsa, die Wildgans. Zu ihm gehört seine Gefährtin
Sarasvati, Göttin der Kunst und des Wissens. Sie wird mit der
Vina, einem Saiteninstrument, dargestellt.
2.2 Vishnu - der Erhalter der Welt
Vishnu ist der Welterhalter. Er steht entweder auf einem Lotus
(Zeichen der Reinheit) oder fliegt auf dem Vogel Garuda oder liegt
auf einer Schlange. In seinen vier Händen hält er Diskus,
Meermuschel, Lotusblüte und Keule. Seine Gefährtin ist
Lakshmi, die Göttin der Schönheit, des Glücks und
des Reichtums. Vishnu inkarniert sich von Zeit zu Zeit, um das Dharma
(Gesetz) auf der Erde aufrecht zu erhalten. Seine letzten Inkarnationen
sind Rama, Krishna und Buddha. Folgen soll noch die zehnte Inkarnation,
der Kalkinavatar. Ramas Taten und Leben mit seiner Gefährtin
Sita sind im Ramayana niedergeschrieben.
2.3 Shiva - der Zerstörer der Welt
Shiva ist zugleich der Zerstörer und Erneuerer. Er kann viele
Formen annehmen. Manchmal erscheint er als Asket mit einem Tigerfell
bekleidet. Die meisten der Sadhus beziehen sich auf ihn, manche
tragen auch den Shiva-Dreizack mit sich. Shiva wird nachgesagt,
dass er Ganja raucht. Deshalb trifft man in Nordindien und Nepal
besonders viele Sadhus mit Shilloms. Shivas Reittier ist der Bulle
Nandi. Seine Gefährtin ist Parvati, die Mutter von Ganesha
und Skanda, dem Kriegsgott mit dem Pfau, und ferner eine schöne,
manchmal exzentrische Göttin. Sie hat genauso wie Shiva den
Doppelaspekt von Erhaltung und Zerstörung. Parvati ist das
Sinnbild der lebensspendenden, lebenserhaltenden Mutter. Verkörpert
sie den Aspekt der Zerstörung, wird sie Kali oder Durga genannt.
2.4 Ganesh - Glücksbringer mit Elefantenkopf
Ganesh, der Sohn von Shiva und Parvati, trägt einen Elefantenkopf,
weil Shiva ihm in einem Anfall von Wut den Kopf abschlug und ihm
deshalb vom nächstbesten Lebewesen den Kopf aufsetzen musste,
um ihn wieder zum Leben zu bringen. Das erstbeste, gerade greifbare
Lebewesen war ein Elefant. Das Reittier Ganeshs ist eine Ratte.
Die Ratte ist ein Symbol für die Kraft, die selbst im kleinsten
Lebewesen steckt und die Fähigkeit in sich birgt, selbst einen
Elefanten zu tragen.
2.5 Krishna - Inkarnation Vishnus in Hirtengestalt
Krishna, der blaue Hirtengott mit der Flöte, hat seine Kindheit
und Jugend bei den Hirten verbracht, und viele Geschichten ranken
um seine Spiele mit den Gopis, den Milchmädchen. Die meisten
Krishnabilder zeigen ihn mit Radha, einer Gopi. Anhänger Krishnas
suchen die Erlösung ganz in der Hingabe zu Krishna (Bhakti
= liebende Hingabe). Krishna begegnet uns wieder in einem Teil des
Mahabharata, der Bhagavadgita. Hier ist er der Wagenlenker Arjunas,
der ihn lehrt, dem Dharma entsprechend zu handeln und Gott zu vertrauen,
ohne nach Erfolg oder Misserfolg zu fragen.
3.0 Das Kastensystem
In Indien wird jeder Mensch aufgrund seines Karmas in eine bestimmte
Kaste hineingeboren. Diese Kastenzugehörigkeit ist vererbbar
und die Regeln der Kaste bestimmen den späteren Ehepartner
sowie das ganze spätere Leben, wie z.B. den Beruf. Dieses unmenschliche,
unflexible Kastensystem, bietet den hochgestellten Kasten noch den
Rahmen dafür, niedrige Kasten auszubeuten und sich ihnen gegenüber
unmenschlich zu verhalten.
3.1 Das Kastensystem als spirituelle Ordnung
Dieses heutige Kastensystem ist nur ein dekadentes Abbild einer
ursprünglich flexiblen spirituellen Einteilung.
Die ursprüngliche
Kasteneinteilung hatte absolut nichts mit der Vererbbarkeit und
Ökonomie zu tun, sondern sie war die Anerkennung eines bestimmten
spirituellen Entwicklungsstandes, den jemand erreicht hatte; als
Brahmanen bezeichnete man einen Wissenden, der die höchste
Stufe der Erkenntnis erreicht hatte, der in das Brahman eingetaucht war.
Ein Kshatriya war ein Kämpfer, ein Mensch, der noch um
die Wahrheit kämpfen musste und sich auf dem Weg befand, während
ein Vaishya noch mehr im Materiellen verhaftet war und ein Sudra
die unterste Stufe darstellte. An diese spirituelle Einteilung erinnert
noch heute, dass alle Jungen der höheren Kasten bis zur Initiation
(Ausstattung mit der heiligen Schnur) auf der Ebene der Sudras stehen
und keine Nahrungsgebote zu beachten haben. Erst bei der Initiation
werden sie von Brahmanenpriestern in die Kaste ihrer Väter
eingeführt.
3.2 Das Kastensystem als ökonomische Ordnung
Diese spirituelle Ordnung wurde mit der Zeit in eine ökonomische
Ordnung umgewandelt. Dies scheint mit einem allgemeinen Zerfall der
Werte zusammenzuhängen, der eintrat, als die Arier sich mit den
Nichtariern vermischten, die Brahmanen bestechlich wurden und somit
bereit waren, für Geschenke und Geld Nichtarische in die Kaste
aufzunehmen. Die Brahmanen führten für Geld Reinigungszeremonien
durch und gaben so den Gewillten die Möglichkeit, in eine höhere
Kaste aufgenommen zu werden. Im ursprünglichen Sinne werden diese
Reinigungszeremonien wohl Initiationsriten gewesen sein, in denen
ein Wissender (Brahmane) einen Nicht-Brahmanen ohne Hinblick auf den
materiellen Gewinn auf den Weg des Wissens führte, ihn als Schüler
aufnahm mit dem Ziel, aus ihm einen Wissenden (Brahmanen) zu machen.
3.3 Das Kastensystem - Weiterentwiklung und Degeneration
Nachdem die Brahmanen nun ihre wirkliche Macht durch ihre Hinwendung
zum Materiellen, durch ihre Bestechlichkeit verloren hatten, mußten
sie alles daran setzen, ihre Macht äußerlich zu festigen.
Dies geschah durch die Vererbbarkeit der Kastenzugehörigkeit,
so dass man sich seine festen Pfründe (z.B. als Familienpriester)
erhielt. Außer den vier Hauptkasten, Brahmanen (Priester), Kshatriyas
(Krieger), Vaishas (Handels- und Gewerbestand) und Sudras (Arbeiter-
und Bauernstand), entstanden durch die Abgrenzung verschiedener Berufsgruppen
und Heirat unzählige Zwischenkasten, z.B. die Kaste der Dhobi
(Wäscher), Goldschmiede etc.
In dieser Zeit des orthodoxen Hinduismus,
auch Brahmanismus genannt, erlangten die hellhäutigen Arier zugleich
auch ihre politische Herrschaft über die Nichtarier. Religion
war damit ein Mittel zur Erlangung der Macht geworden, der wesentliche
Kern also verdeckt. Die vier Hauptkasten wurden als Kopf, Schultern
und Arme, Eingeweide und Füße des Urmenschen, der von Brahman
geschaffen wurde, angesehen und waren damit gottgegeben.
3.4 Überwindung des Kastenzwanges
Außerhalb dieser Kasteneinteilung standen die Parias, die
Kastenlosen, die auch gleichzeitig die Ausgestoßenen waren.
Nach diesem dekadenten arischen Kastensystem durften nur die drei
oberen Kasten sich Arya nennen. Dieses Kastensystem fand seine Kritiker
in den eigenen Reihen und führte zur Entstehung neuer Religionen
wie Buddhismus und Jainismus, die das Kastendenken ablehnen. Buddha
entstammte selbst der Kriegerkaste, verhielt sich wie ein Krieger
im ursprünglichen Sinne und wurde zu einem Wissenden. Über
den Kasten stehend empfinden sich auch alle indischen Heiligen,
Sannyasins, Sadhus, also alle, die einen wirklich spirituellen Weg
gehen.
Mit der Unabhängigkeit Indiens wurde der Kastenzwang aufgehoben,
es ist strafbar, die Parias zu benachteiligen; es geschieht aber
immer noch. In den indischen Zeitungen findet man oft Notizen, daß
es zu Protesten kam, wenn Parias ein bestimmtes Kontingent an
Universitätsplätzen zur Verfügung gestellt bekamen
oder sogar, dass die Hütten der Unberührbaren von Angehörigen
der oberen Kasten niedergebrannt wurden. Die unberührbaren
Kasten nennen sich heute selbst Harijans, d.h. Kinder Gottes, ein
Ehrenname, den sie von Mahatma Gandhi, der zeitweise mit ihnen zusammenlebte,
bekamen.
Die Harijans wehren sich heute selbst gegen ihre Unterdrückung,
auf dem Land kommt es zu Landarbeitertreffen, bei denen die Forderung
von höheren Löhnen und die Verweigerung der unreinen und
unbezahlten (!) Arbeiten bei der Gutsfamilie durch die Harijan-Frauen
beschlossen werden. Der Widerstand der Großgrundbesitzer reicht
vom Anwerben auswärtiger Arbeitskräfte, denen dann doch
höhere Arbeitslöhne gezahlt werden, bis zum Niederbrennen
der Häuser derer, die ihr Recht verlangen. Aufgeklärt
werden solche Fälle selten, da auch der Polizei meistens Geld
näher steht als das Recht. Und so bestehen die Machtstrukturen
immer noch weiter.
Mario Glanz (Mai 2003, 5BK)
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