Taoismus - Die Ganzheit des Seins
1.0 Einführung
Taoismus nennt man die Tradition, die neben Konfuzianismus und
Buddhismus die dritte Hauptreligion Chinas darstellt, von denen
allerdings das geflügelte Wort gilt: »Die drei Religionen
finden sich in einer zusammen«. Der Taoismus wird mit der
Gestalt des Lao Tse assoziert, jenem »alten Meister«
(= Lao Tse) der traditionell als Autor des Tao-te king gilt.
1.1 Das Tao-te king
Die Philosophie des »Tao-te king« kristallisiert sich
in den Begriffen des »Tao«, des Weges, und des »Te«,
der Tugend oder Kraft. Weitere zentrale Vorstellungen sind die des
absichtslosen Handelns (»wu-wei«) und der Rückkehr
aller Dinge zu ihrem Ursprung. Im »Tao-te king«, dem
grundsätzlichen Werk des philosophischen Taoismus, wird Tao
als das umfassende letzte Prinzip bezeichnet, das vor Himmel und
Erde existiert. Es ist unnennbar und unbeschreibbar, es ist die
Mutter aller Dinge; es läßt alles entstehen und handelt
doch nicht.
Man kann den Taoismus auch als »watercourse way« bezeichnen,
wie man im Englischen sagt. Was das heißen soll, kann man vielleicht
am besten verstehen, wenn man sich den Kreislauf des Wassers vergegenwärtigt.
Wasser ist ein Element, das sich hervorragend anpassen kann, das zugleich
weich, nachgiebig, aber auch sehr stark und kraftvoll sein kann, das
ständig in Bewegung ist, das ruhig dahin strömt oder auch
mal ausbricht, überläuft, um dann wieder zurückzuweichen;
kurz - es ist wie das Leben.
»Nichts ist in der Welt weicher und schwächer denn das
Wasser, und nichts, was Hartes und Schwaches angreift, vermag es
zu übertreffen. - Wasser ist gut, allen Wesen zu nützen,
und streitet nicht; es bewohnt, was die Menschen verschmähen;
darum ist es nahe dem Tao.« (Lao Tse)
1.2 Die Symbolik von Yin und Yang
Die Grundlage dieser Philosophie bildet der Gedanke, dass in allem
Bestehenden zwei entgegengesetzte Prinzipien wirksam sind, ein männliches
(Yang) und ein weibliches (Yin), oder anders ausgedrückt: dieser
Philosophie liegt die Annahme zugrunde, dass das Universum aus dem
Zusammenspiel zweier sich ergänzenden und zugleich entgegengesetzten
Kräften besteht: dem Maskulinen und dem Femininen, dem Festen
und dem Weichen, dem Aktiven und dem Passiven, dem Licht und dem
Dunkel, dem Hinaufstrebenden und dem Herabsinkenden, usw.
Diese Gegensätze oder besser die Prinzipien Yin und Yang durchdringen
als Urkräfte alles Leben, sie stehen einander polar entgegen
und doch sind sie mehr als nur Dualismus, d.h. ihre polaren Gegensätze
sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind die Enden oder Pole
eines Ganzen. So wie man einen Magneten nicht in einen einzelnen Nord-
und Südpol trennen kann, so können Yin und Yang auch nicht
voneinander getrennt werden. Es ist immer eine Spur von Yang in Yin
oder umgekehrt von Yin in Yang. Es gibt nichts, was nur Yang wäre.
Selbst wenn Yang sich optimal ausgedehnt hat, trägt es den Samen
des Yin in sich, und so trägt auch die »negative«
Kraft immer den Samen des Positiven in sich und umgekehrt.
Nach alter chinesischer Denkweise liegt das Wesentliche der Natur
in diesem zugleich Gut- und Schlecht-Sein.
Die beiden Pole des Seins
schließen sich nicht gegensätzlich aus, sondern sie fließen
ständig in einer ganz bestimmten Ordnung ineinander über,
entfernen sich voneinander, um sich dann doch wieder gegenseitig zu
bedingen.
1.3 Yin und Yang im täglichen Leben
Weisheit besteht im Aufspüren dieser Ordnung und darin, mit
ihr im Einklang zu handeln. Man gelangt so zu einer Anschauung,
die den Wert und das Wesentliche des Lebens nicht im Kampf um ständigen
Aufstieg sieht, auch nicht in der Bewahrung von Harmonie, und schon
gar nicht in der stetigen Betonung des Positiven, sondern darin,
ein dynamisches Gleichgewicht zu finden und zu bewahren.
Die Yin-Yang-Theorie spielte in der traditionellen chinesischen
Kultur in ziemlich allen Aspekten des Lebens eine wichtige Rolle.
In der Philosophie, in der Politik, der Medizin, der Wissenschaft,
in der Architektur und nicht zuletzt auch im menschlichen Miteinander,
in den Beziehungen und der Kindererziehung.
Die alten Taoisten wussten, dass menschliche Beziehungen – seien
es nun Freundschaften, die Ehe oder auch Eltern-Kind-Beziehungen –
sich ständig dynamisch zwischen zwei Polen hin- und herbewegen.
Es gibt keinen Tag ohne die Nacht, keine Höhe ohne Tiefe, keine
Stille ohne Klang, keinen Frieden ohne Krieg, das eine kann ohne das
andere nicht sein.
Wie schon Lao Tse im Tao te King sagt:
»Wenn jeder das Schöne als schön erkennt, dann existiert
bereits das Häßliche. Wenn jeder das Gute als gut erkennt,
dann ist das Böse bereits da.« Für die Taoisten sind
Gut und Böse, Schönheit und Häßlichkeit, Liebe
und Hass – so verschieden sie sein mögen – doch untrennbar
miteinander verbunden. Niemals kann eine Seite die Oberhand bekommen
und behalten, denn sie sind zwei Seiten eines Ganzen wie die zwei
Seiten einer Münze oder die Enden eines Stockes.
Steht dieses Weltbild nicht in direktem Kontrast zu unserem westlichen
Streben nach absoluter Güte, Schönheit und Liebe?
2.0 Das Tao-te king (Auszüge)
Der SINN, der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
2
Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,
so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,
so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander.
Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander.
Vorher und Nachher folgen einander.
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor,
und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht.
Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt,
bleibt er nicht verlassen.
8
Höchste Güte ist wie das Wasser.
Des Wassers Güte ist es,
allen Wesen zu nützen ohne Streit.
Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.
Drum steht es nahe dem SINN.
9
Etwas festhalten wollen und dabei es überfüllen:
das lohnt der Mühe nicht.
Etwas handhaben wollen und dabei es immer scharf halten:
das läßt sich nicht lange bewahren.
Mit Gold und Edelsteinen gefüllten Saal
kann niemand beschützen.
Reich und vornehm und dazu hochmütig sein:
das zieht von selbst das Unglück herbei.
Ist das Werk vollbracht, dann sich zurückziehen:
das ist des Himmels SINN.
11
Dreißig Speichen umgeben eine Nabe:
In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.
Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:
In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.
Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde:
In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.
Darum: Was ist, dient zum Besitz.
Was nicht ist, dient zum Werk.
12
Die fünferlei Farben machen der Menschen Augen blind.
Die fünferlei Töne machen der Menschen Ohren taub.
Die fünferlei Würzen machen der Menschen Gaumen schal.
Rennen und jagen machen der Menschen Herzen toll.
Seltene Güter machen der Menschen Wandel wirr.
14
Man schaut nach ihm und sieht es nicht:
Sein Name ist Keim.
Man horcht nach ihm und hört es nicht:
Sein Name ist Fein.
Man faßt nach ihm und fühlt es nicht:
Sein Name ist Klein.
Diese drei kann man nicht trennen,
darum bilden sie vermischt Eines.
Sein Oberes ist nicht licht,
sein Unteres ist nicht dunkel.
Ununterbrochen quellend,
kann man es nicht nennen.
Er kehrt wieder zurück zum Nichtwesen.
Das heißt die gestaltlose Gestalt,
das dinglose Bild.
17
Herrscht ein ganz Großer,
so weiß das Volk kaum, daß er da ist.
Mindere werden geliebt und gelobt,
noch Mindere werden gefürchtet,
noch Mindere werden verachtet.
Wie überlegt muß man sein in seinen Worten!
Die Werke sind vollbracht, die Geschäfte gehen ihren Lauf,
und die Leute denken alle:
»Wir sind frei.«
24
Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.
Wer mit gespreizten Beinen geht,
kommt nicht voran.
Wer selber scheinen will,
wird nicht erleuchtet.
Wer selber etwas sein will,
wird nicht herrlich.
Wer selber sich rühmt,
vollbringt nicht Werke.
Wer selber sich hervortut,
wird nicht erhoben.
Er ist für den SINN wie Küchenabfall und Eiterbeule.
Und auch die Geschöpfe alle hassen ihn.
Darum: Wer den SINN hat,
weilt nicht dabei.
25
Es gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet.
Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,
so still, so einsam.
Allein steht es und ändert sich nicht.
Im Kreis läuft es und gefährdet sich nicht.
Man kann es nennen die Mutter der Welt.
Ich weiß nicht seinen Namen.
Ich bezeichne es als SINN.
Mühsam einen Namen ihm gebend,
nenne ich es: groß.
Groß, das heißt immer bewegt.
Immer bewegt, das heißt ferne.
Ferne, das heißt zurückkehrend.
So ist der SINN groß, der Himmel groß, die Erde groß,
und auch der Mensch ist groß.
Vier Große gibt es im Raume,
und der Mensch ist auch darunter.
Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem SINN.
Der SINN richtet sich nach sich selber.
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