› Achtsamkeit - Die Kraft der Bewusstheit

1.0 Was du tust, das tue ganz

Ein in der Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gesammelt sein könne. Dieser sagte:

Wenn ich stehe, dann stehe ich
Wenn ich gehe, dann gehe ich
Wenn ich sitze, dann sitze ich
Wenn ich esse, dann esse ich
Wenn ich spreche, dann spreche ich...

Da fiel ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: Das tun wir auch, aber was machst du darüber hinaus?

Er sagte wiederum:
Wenn ich stehe, dann stehe ich
Wenn ich gehe, dann gehe ich
Wenn ich sitze, dann sitze ich
Wenn ich esse, dann esse ich
Wenn ich spreche, dann spreche ich...

Wieder sagten die Leute: Das tun wir auch. Er aber sagte zu ihnen:
Nein, wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon
Wenn ihr steht, dann lauft ihr schon
Wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel...

2.0 Schritt - Atemzug - Besenstrich

Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wusste, es war eine sehr notwendige Arbeit. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich.
Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es weiter – Schritt – Atemzug – Besenstrich - - - .
Während er sich so dahin bewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur gerade eben noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat. Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte.
»Siehst du, Momo«, sagte er dann zum Beispiel, »es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.« Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: »Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.«
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: »Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.«

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: »Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.«

3.0 Die Praxis der Selbstbeobachtung

Die Vorgangsweise der Übung zur inneren Konzentration ist folgendermaßen:

· Wenn ich denke, WEISS ICH, dass ich denke.
· Wenn ich über dieses Ding nachdenke, WEISS ICH, dass ich über dieses Ding nachdenke.
· Wenn ich über jenes Ding nachdenke, WEISS ICH, dass ich über jenes Ding nachdenke.
· Wenn ich mich über etwas freue, WEISS ICH, dass ich mich über etwas freue.
· Wenn ich mich über etwas ärgere, WEISS ICH, dass ich mich über etwas ärgere.
· Wenn ich einen Schmerz empfinde, WEISS ICH, dass ich einen Schmerz empfinde.
· Wenn ich ängstlich bin, WEISS ICH, dass ich ängstlich bin – und so weiter.

Genauso wie sich ein Mensch in einem schönen neuen Kleid oder ein König mit der königlichen Krone auf dem Haupt bewegt – langsam, vorsichtig, bewusst, – ähnlich handelt ein Mensch bei sich, der sein Denkprinzip sich in dieser Weise mit seinem Denken befassen lässt.

Genauso wie ein Schiff fährt, das sich vom offenen Meer vorsichtig, zögernd, ständig bereit zum Anhalten, zum Anker-Werfen, dem Land nähert, genauso nähert sich ein sich seiner selbst bewusst werdender Mensch den Dingen dieser Welt: aufmerksam, zögernd, forschend, immer bereit zur Abkehr, zur Ablehnung. Die Welt beherrscht bloß den, der sich durch sie hinreißen lässt: hinreißen lässt sich nur derjenige, der auf sich selbst vergessen hat.

Deshalb ist es notwendig, täglich zu üben:

· Wenn ich etwas tue, WEISS ICH, dass ich etwas und was ich tue.
· Wenn ich etwas spreche, WEISS ICH, dass ich etwas und was ich spreche.
· Wenn ich etwas denke, WEISS ICH, dass ich etwas und was ich denke.
· Wenn ich etwas empfinde, WEISS ICH, dass ich etwas und was ich empfinde.

Man muss sich allmählich an die Abkehr der Gedanken von den weltlichen Dingen und an die Konzentration der Gedanken auf sich selbst gewöhnen. Der Mensch darf nicht vergessen, dass er Pflichten nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst gegenüber hat.

Wenn er verschiedene unnütze Sorgen wegfallen lässt, unnütze konventionelle Rücksichten, das Pflegen von Vergnügungen und Korrespondenz, unnützes Reden, wenn er etwas Zeit vom Essen, Trinken und beim Schlaf einspart, dann wird ihm sicher, auch bei Erfüllung der Pflichten, eine halbe Stunde für sich selbst bleiben. Der Versuch zeigt, dass der Mensch gestärkt aus diesem Gedankenbad zur äußeren Welt zurückkehrt. Das Verweilen in sich selbst ist kein Genießertum, kein Faullenzen, kein Ausruhen, sondern eine Arbeit. Ja, die Abkehr der Gedanken von der Welt ist sogar eine schwierige Leistung, denn diese sind zerstreut und verweilen an allen möglichen notwendigen und auch überflüssigen Orten.

4.0 »Nimm dich selber wahr« - Selbstreflexion bei Johannes Tauler

Willst du ein »inwendiger Mensch« werden, so musst du die äußeren Dinge abstreifen, soweit sie dem inneren Leben zuwider sind. Dazu sollst du mit dem Licht deiner Vernunft all deine Werke, Worte und Gedanken betrachten: Sieh dich selber an, in deinem Benehmen, deiner Zuneigung, deinen Gedanken, deinen Ansichten, in Wort und Werk, in Kleider und Kleinodien, in Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen, in Gut und Ehre, in Bequemlichkeit, Freuden, Haltung und Sitte. Du musst sorgsam auf dich selbst achten, dich selbst ansehen und in dich hineinsehen in all der »Ungelassenheit« deines Tuns, in deinem Gehaben und deinen Handlungen, beim Umgang mit allen Menschen, in dem was du tust oder lässt. Während deiner äußeren Tätigkeit soll der größte Teil nach innen gekehrt sein, soll vorwärts drängen und nach innen schauen. Und ist man frei und untätig, dann soll man mit allen Teilen, Kräften und Sinnen nach innen gesammelt, geeint und in den Grund versunken sein.

Ach, ihr Lieben! Man sollte Leben und Wandel von sehr nahe betrachten, um keine Gebrechen zu behalten. Eines sollt ihr wissen: dass zehn Fehler, die der Mensch für Fehler hält und anerkennt, nicht so schwer wiegen als einer, den der Mensch nicht anerkennen, nicht für einen Fehler halten, und an dem er in Vermessenheit festhalten will.
Ach meine Lieben! Welche Wunder könnten wir mit Gott vollbringen, wenn wir uns zu uns selber kehrten und dabei beharrten, und die Gnaden in uns wahrnähmen! Wir vermöchten alles und fänden wahrhaftig das Himmelreich in uns. Aber das tun wir nicht: wir kehren uns in betrüblicher Weise nach auswärts, so sehr, dass es alles Maß übersteigt.

Die großen Lehrmeister in Paris lesen in den großen Büchern und wenden die Seiten um: das ist recht gut; aber die Menschen des inneren Lebens lesen das lebendige Buch, in dem alles lebt. Die durchlaufen Himmel und Erde und lesen dort das wunderbare Werk Gottes. Zu diesen Menschen darf man sagen: »Das Reich Gottes ist in euch!« Diese finden die Wahrheit, die allen denen unbekannt ist, die nicht bei sich wohnen, und denen allein bekannt, die bei sich zu Hause sind. Sie finden das, was Sankt Dionysius schreibt: »Das ist jenseits aller Vernunft, jeden Gedankens, jeglichen Verstandes: das Licht im Licht«.

Quellenhinweise:
Text 1 stammt aus unbekannter Quelle, Text 2 wurde entnommen aus: Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973; Text 3 stammt aus der Zeitschrift Bodhibaum; vgl. dazu auch Nyanaponika, Geistestraining durch Achtsamkeit, Christiani, Konstanz; Zu Text 4 vergleiche: G. Hoffmann, Johannes Tauler, Predigten, 2 Bände, Einsiedeln 1987, - insbesondere die Predigten 23, 32-34, 38 und 69.