Wachsein & Freude - Schlüsselthemen
und -texte
1.0 Wach sein ist alles!
Von nichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, dass
er wach sei; dennoch ist er in Wirklichkeit in einem Netz gefangen,
das er sich selbst aus Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses
Netz, desto mächtiger herrscht der Schlaf; die darein verstrickt
sind, das sind die Schlafenden, die durchs Leben gehen wie Herdenvieh
zur Schlachtbank, stumpf, gleichgültig und gedankenlos.
Die Träumenden unter ihnen sehen durch die Maschen eine vergitterte
Welt, – sie erblicken nur irreführende Ausschnitte, richten
ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, dass diese Bilder bloß
sinnloses Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind. Diese ›Träumer‹
sind nicht, wie du vielleicht glaubst, die Phantasten und Dichter
– es sind die Regsamen, die Fleißigen, Ruhelosen der
Erde, die vom Wahn des Tuns Zerfressenen; sie gleichen emsigen,
hässlichen Käfern, die ein glattes Rohr emporklimmen,
um von oben – hineinzufallen.
Sie wähnen, wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben,
ist in Wahrheit nur Traum, – genau vorausbestimmt und unbeeinflussbar
von ihrem Willen.
Einige unter den Menschen hat's gegeben und gibt es noch, die wussten
gar wohl, dass sie träumen, – Pioniere, die bis zu den
Bollwerken vorgedrungen sind, hinter denen sich das ewig wache Ich
verbirgt, – Seher wie Goethe, Schopenhauer und Kant, aber
sie besaßen die Waffen nicht, um die Festung zu erstürmen,
und ihr Kampfruf hat die Schläfer nicht erweckt.
Wach sein ist alles.
Der erste Schritt dazu ist so einfach, dass jedes Kind ihn tun kann;
nur der Verbildete hat das Gehen verlernt und bleibt lahm auf beiden
Füßen, weil er die Krücken nicht missen will, die
er von seinen Vorfahren geerbt hat.
Wach sein ist alles.
Sei wach bei allem, was du tust! Glaub nicht, dass du's schon bist.
Nein, du schläfst und träumst.
Stell dich fest hin, raff dich zusammen und zwing dich einen einzigen
Augenblick nur zu dem körperdurchrieselnden Gefühl: ›Jetzt
bin ich wach!‹
Gelingt es dir, das zu empfinden, so erkennst du auch sogleich,
dass der Zustand, in dem du dich soeben noch befunden hast, dagegen
wie Betäubung und Schlaftrunkenheit erscheint.
Das ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen
Wanderung von Knechttum zu Allmacht.
Auf diese Art geh vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.
Es gibt keinen quälenden Gedanken, den du damit nicht bannen
könntest; er bleibt zurück und kann nicht mehr zu dir
empor; du reckst dich über ihn, so wie die Krone eines Baums
über die dürren Äste hinauswächst.
Die Schmerzen fallen von dir ab wie welkes Laub, wenn du einmal
so weit bist, dass jenes Wachsein auch deinen Körper ergreift.
Die eiskalten Tauchbäder der Juden und Brahmanen, die Nachtwachen
der Jünger Buddhas und der christlichen Asketen, die Foltern
der indischen Fakire, um nicht einzuschlafen, – sie alle sind
nichts anderes als erstarrte äußerliche Riten, die wie
Säulentrümmer dem Suchenden verraten: Hier hat in grauer
Vorzeit ein geheimnisvoller Tempel des Erwachenwollens gestanden.
Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: durch alle
zieht sich wie ein roter Faden die verborgene Lehre vom Wachsein;
– es ist die Himmelsleiter Jakobs, der mit dem Engel des Herrn
die ganze ›Nacht‹ gerungen hat, bis es ›Tag‹
wurde und er den Sieg gewann.
Von einer Sprosse immer hellern und hellern Wachseins zur andern
musst du steigen, wenn du den Tod überwinden willst, dessen
Rüstzeug Schlaf, Traum und Betäubung sind.
Schon die unterste Sprosse dieser Himmelsleiter heißt: Genie;
wie erst sollen wir die höheren Stufen benennen! Sie bleiben
der Menge unbekannt und werden für Legenden gehalten. –
Auch die Geschichte von Troja galt jahrhundertelang als Sage, bis
endlich einer den Mut fand – und grub selber nach.
Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich dir entgegenstellt,
dein eigner Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei wird er
mit dir kämpfen; erblickst du aber den Tag des ewigen Wachseins,
der dich fernrückt von den Nachtwandlern, die da glauben, die
seien Menschen, und nicht wissen, dass sie schlafende Götter
sind, dann verschwindet für dich auch der Schlaf des Körpers,
und das Weltall ist dir untertan.
Dann kannst du Wunder tun, wenn du willst, und musst nicht wie ein
wimmernder Sklave demütig harren, bis es einem grausamen Götzen
gefällig ist, dich zu beschenken oder – dir den Kopf
abzuschlagen.
Freilich, das Glück des treuen, wedelnden Hundes: einen Herrn
über sich zu kennen, dem er dienen darf – dieses Glück
wird für dich zerschellen, – aber frag dich selbst, würdest
du als Mensch, der du jetzt noch bist, mit deinem Hunde tauschen?
2.0 Das Lied der Freude
»Wer ich bin? Hat es je, seit die Erde steht, einen Menschen
gegeben, der auf diese Frage die richtige Antwort wüsste? –
Ich bin die unsichtbare Nachtigall, die in dem Käfig sitzt
und singt. Aber nicht jedes Käfigs Stäbe schwingen mit,
wenn sie singt. Wie oft habe ich in dir ein Lied angestimmt, dass
du mich hören möchtest, aber du warst taub dein Leben
lang. Nichts im ganzen Weltenraum war dir stets so nah und eigen
wie ich, und jetzt frägst du mich, wer ich bin? Manchem Menschen
ist die eigene Seele so fremd geworden, dass er tot zusammenbricht,
wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass er sie erblickt. Er erkennt
sie dann nicht mehr, und sie erscheint ihn zum Medusenhaupt verzerrt;
sie trägt das Antlitz der üblen Taten, die er vollbracht
hat und von denen er heimlich fürchtet, sie könnten seine
Seele befleckt haben. Mein Lied kannst du nur hören, wenn du
es mitsingst. Ein Missetäter ist der, der das Lied seiner Seele
nicht hört – ein Missetäter am Leben, an andern
und an sich selbst. Wer taub ist, der ist auch stumm. (...)
»Was soll ich hören? Wie soll ich es hören?«
fragte der kaiserliche Leibarzt, in seinem Erstaunen völlig
vergessend, dass er einen Unzurechnungsfähigen, vielleicht
sogar Wahnsinnigen, vor sich hatte. Der Schauspieler beachtete ihn
nicht und redete weiter mit seinen beiden Stimmen, die einander
so seltsam durchdrangen und ergänzten:
»Mein Lied ist eine ewige Melodie der Freude. Wer die Freude
nicht kennt – die reine grundlose freudige Gewissheit, die
ursachlose: Ich bin, der ich bin, der ich war und immer sein werde
–, der ist ein Sünder am Heiligen Geist. Vor dem Glanz
der Freude, die in der Brust strahlt wie eine Sonne am inneren Himmel,
weichen die Gespenster der Dunkelheit, die den Menschen als die
Schemen begangener und vergessener Verbrechen früherer Leben
begleiten und die Fäden seines Schicksals verstricken. Wer
dies Lied der Freude hört und singt, der vernichtet die Folgen
jeglicher Schuld und häuft nie mehr Schuld darauf.
Wer sich nicht freuen kann, in dem ist die Sonne gestorben, wie
könnte ein solcher Licht verbreiten?
Sogar die unreine Freude steht näher dem Licht als der finstere
trübselige Ernst. – –
Du frägst, wer ich bin? Die Freude und das Ich sind dasselbe.
Wer die Freude nicht kennt, der kennt auch sein Ich nicht.
Das innerste Ich ist der Urquell der Freude, wer es nicht anbetet,
der dient der Hölle. Steht denn nicht geschrieben: ›Ich‹
bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht andere Götter haben
neben mir? –
Wer das Lied der Nachtigall nicht hört und singt, der hat kein
Ich; er ist ein toter Spiegel geworden, in dem fremde Dämonen
kommen und gehen – ein wandelnder Leichnam wie der Mond am
Himmel mit seinem erloschenen Feuer. –
Versuch's nur und freue dich! –
So mancher, der's versucht, frägt: Worüber soll ich mich
freuen? Die Freude braucht keinen Grund, sie wächst aus sich
selbst wie Gott; Freude, die einen Anlass braucht, ist nicht Freude,
sondern Vergnügen. –
So mancher will Freude empfinden und kann nicht – dann gibt
er der Welt und dem Schicksal die Schuld. Er bedenkt nicht: Eine
Sonne, die das Leuchten fast vergessen hat, wie könnte die
mit ihrem ersten schwachen Dämmerschein schon die Gespensterschar
einer tausendjährigen Nacht verjagen? Was einer sein ganzes
Leben hindurch an sich selber verbrochen hat, lässt sich nicht
gutmachen in einem einzigen kurzen Augenblick!
Doch in wen einmal die ursachlose Freude eingezogen ist, der hat
hinfort das ewige Leben, denn er ist vereint mit dem ›Ich‹,
das den Tod nicht kennt – der ist immerdar Freude, und wäre
er auch blind und als Krüppel geboren. – Aber die Freude
will gelernt sein – sie will ersehnt sein, aber was die Menschen
ersehnen, ist nicht die Freude, sondern – der Anlass zur Freude.
Nach ihm gieren sie und nicht nach der Freude.«
Quellenhinweise: Text 1 stammt aus dem Roman von Gustav Meyrink,
»Das grüne Gesicht« (1916), Text 2 aus: Gustav
Meyrink, »Walpurgisnacht« (1917). Der Autor lebte von
1868 - 1932. Bekannt wurde er als Verfasser kurzer satirischer Erzählungen
und Romane sowie als Okkultist, der auf dem Gebiet der Esoterik
forschte und zahlreiche Verbindungen mit den gegensätzlichsten
spirituellen Strömungen unterhielt. Großen Ruhm erwarb
sich Meyrink mit dem Roman »Der Golem« der 1915 erschien.
vgl. Frans Smit: Gustav Meyrink, Auf der Suche nach dem Übersinnlichen,
Langen Müller, 1988, S 11.
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