Inneres Beten - Wegweiser zum geistlichen
Leben
1.0 Motto
»Man muss wissen, dass Freundschaft und Verbindung mit Gott
in diesem Erdenleben möglich sind. Ich meine hier jene Verbindung,
die Menschen suchen, die sich um Gebet und Andacht bemühen.
Sie ist realer als alle Dinge dieser Welt und so beglückend,
dass nichts ihrem Wert gleichkommt.« (Francisco de Osuna)
2.0 Begriffsgeschichte
2.1 Von den Vätern bis zum Mittelalter
Das deutsche Wort »inneres Beten« ist eine Übertragung
des lateinischen »oratio mentalis«. Vermutlich älter
ist der Begriff »oratio vocalis«. Thomas von Aquin (1225-1274)
versteht darunter das mit laut oder still gesprochenen Worten verrichtete
Beten, namentlich das gemeinsame Gebet (»oratio communis«).
»Mens« steht in der lateinischen Sprache für Denkkraft,
Verstand, Geist, Bewusstsein aber auch für Herz, Seele, Gemüt,
Wille und Leidenschaft, also für »das Innere« der
menschlichen Person, für ihr Geistes- und Seelenvermögen.
»Oratio mentalis« benennt damit den Grundakt und das
Wesen des christlichen Betens: die bewusste Hinwendung einer menschlichen
Person zum verborgenen Gott.
Bei Katharina von Siena (1347-1380) – neben Teresa von Avila
und Therese von Lisieux, eine der drei Frauen, die den Titel »Kirchenlehrerin«
erhielt – begegnet uns in dem 1378 niedergeschriebenen »Dialogo«
das Wortpaar »inneres Beten« und »mündliches
Beten«. Katherina lässt Jesus sagen, die Seele »müsse
das mündliche Gebet pflegen ..., aber nicht ohne gleichzeitig
nach dem inneren (Gebet) zu streben. Während sie betet, soll
sie den Geist zu mir erheben und auf meine Liebe hinrichten ...
Nur so würde ihr mündliches Gebet ihr nützlich und
Mir (Christus) wohlgefällig sein, und sie wird vom unvollkommenen
mündlichen Gebet durch beharrliche Anstrengung zum vollkommenen
inneren (Gebet) gelangen.« Inneres Gebet steht also auch bei
Katharina nicht für eine eigene Gebetsform neben der des mündlichen
Betens, sondern meint das, was alle »Zungengebete« erst
wirklich zum Beten macht.
John Wyclif (um 1320-1384) bezeichnet mit »oratio mentalis«
die stille, wortlose Hinwendung des einzelnen zu Gott, und zwar
im Unterschied zur »oratio vocalis«, dem formulierten
Gebet. Er fügt noch als dritten Begriff die »oratio vitalis«
hinzu, worunter er das als Gebet gelebte Leben selbst versteht,
das er für die wichtigste Gebetsform hält.
2.2 In der Deutschen Mystik
Das Entstehen von Nonnenklöstern und ihre Verbreitung im 13.
und 14. Jahrhundert machten bei den Patres, die für die theologische
und spirituelle Unterweisung der Schwestern Sorge zu tragen hatten,
immer mehr den Gebrauch der Volkssprache anstelle des Lateins notwendig.
So entsteht in dieser Zeit – zusammen mit Texten der Frauenmystik
selbst – erstmalig ein deutschsprachiges geistliches Schrifttum.
Besonders die Dominikaner Meister Eckhart, Johannes Tauler (um 1300-1361)
und Heinrich Seuse, das »Dreigestirn« der Deutschen
Mystik, haben uns ein reichhaltiges Werk hinterlassen, das die Theologie
des Gebetes ins Deutsche übersetzte und dabei kreativ weiterentwickelte.
Unter ihnen ist es vor allem Johannes Tauler, der ausdrücklich
vom inneren Beten spricht. Über das Verhältnis von »innerem
Gebet« und »äusserem Gebet« sagt er: »So
wie mein Mantel und meine Kleider nicht ich selbst sind, mir aber
dienen, so dient auch alles Gebet des Mundes. Es führt nämlich
zuweilen zum wahren Gebet, ist es aber selbst nicht.« Ganz
im Sinne von Thomas von Aquin beschreibt er das innere Beten als
Erhebung des Geistes zu Gott: »dabei müssen Geist und
Gemüt sich unmittelbar zu Gott erheben: dies allein ist das
Wesen des wahren Gebetes und nichts anderes.«
2.3 In der Spanischen Mystik
In der spanischen Literatur findet das Stichwort »oracion
mental« die erste ausdrückliche Erwähnung im Tercer
Abecedario Espirituala des Franziskaners Francisco de Osuna (gestorben
um 1542). Das 1527 erschienene, sehr umfangreiche Werk ist eine
im volksmissionarischen Geist verfasste Anleitung zum geistlichen
Leben, inspiriert von der Vätertradition und der zu dieser
Zeit in Spanien aufgenommenen deutsch-flämischen Frömmigkeitsbewegung
(Devotio moderna). Die Grossen der Spanischen Mystik dieser Zeit,
nicht zuletzt die Karmeliten Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz
empfangen von Osuna entscheidende Impulse. Osuna spricht von drei
Arten des Betens:
· das »mündliche Gebet (oracion vocal)«
· das »Gebet des Herzens (oracion del corazon)« und
· das »innere oder geistliche Gebet (oracion mental o espiritual)«
Bei letzterem, so schreibt er, »erhebt sich unser höchster
Seelenteil in der reinsten und liebevollsten Weise zu Gott, getragen
von den Flügeln des Sehnens und des in Liebe erstarkten Empfindens;
je grösser dabei die Liebe ist, um so weniger Worte bedarf
es.«
Das »mündliche Beten« meint hier das Stundengebet
oder andere Gebete, die unser Mund zur Ehre des Herrn spricht. Der
Ausdruck »Gebet des Herzens« steht für die Meditation
des Wortes Gottes und der Glaubensgeheimnisse. Das »innere
Beten« dagegen geschieht in unseren Herzen, ohne dass der
Mund Worte formuliert, nur unser Herz spricht mit dem Herrn, und
in unserem Innern bitten wir ihn um alles, was wir benötigen.
»So reden wir mit dem Herrn allein und wie im Verborgenen,
wo niemand uns hören kann.« Inneres Beten geschieht also
dort, wo an die Stelle der mündlichen oder stillen Worte und
an die Stelle des diskursiven Erwägens oder der bildhaften
Vorstellung (Meditation) die Liebe und das zu Gott hin erwachte
Sehnen des Herzens tritt. Man nennt diese Gebetsart zu Recht einen
Austausch der Liebe, bei dem der in schweigende Kontemplation versenkte
Mensch in seiner Tiefe die Bewegung des Heiligen Geistes verspürt,
des Geistes Christi, der in uns betet.
Teresa von Avila (1515-1582) schreibt ihren Schwestern und erklärt
anhand des Vaterunser – an einem »mündlichen Gebet«
also –, was ihrer Auffassung nach »inneres Beten«
meint: »Bedenkt also, wenn ihr vor den Herrn tretet, wer der
ist, zu dem ihr sprechen wollt oder zu dem ihr sprecht. Auf ihn
allein muss all meine Aufmerksamkeit gerichtet sein. Das ist inneres
Gebet, meine Töchter, versteht es doch bitte.« Im gleichen
Zusammenhang wiederholt sie: »Inneres Beten heisst, darüber
nachdenken und sich bewusst machen, was wir beten, mit wem wir sprechen
und wer wir sind, die wir es wagen, uns einem so großen Herrn
zu nähern. Ein Vaterunser oder sonst irgendein anderes beliebiges
Gebet sprechen, nannten wir mündliches Gebet. Nun seht, was
für eine miserable Musik wäre das mündliche Gebet,
wenn ihm das innere Beten fehlen würde!« »Inneres
Beten« bezeichnet also bei Teresa von Avila den Anteil, den
der Mensch in der Hinwendung zu Gott leistet.
Das innere Gebet ist bei Teresa eine alles Beten begründende
und begleitende innere Haltung. Es ist die auf Gott gerichtete Aufmerksamkeit,
ein sich Bewusstmachen seine Gegenwart. Teresas »klassische«
Definition dazu lautet: »Das innere Gebet ist, so meine ich,
nichts anderes als ein freundschaftlicher Umgang, ein häufiges
persönliches Umgehen mit dem, von dem wir wissen, dass er uns
liebt.«
Das ausgehende 16. Jahrhundert in Spanien bringt die ersten monographischen
Schriften zum Thema »inneres Beten« hervor. Die wahrscheinlich
früheste stammt aus der Feder des Jeronimo Gracian (1545-1614),
eines Unbeschuhten Karmeliten, der seiner Ordensgründerin Teresa
in tiefer Freundschaft verbunden war. Seine ausführlichen Hinweise
zur Gestaltung einer persönlichen Gebetszeit, zur Wahl eines
ruhigen Ortes und der Vorbereitung durch die Gewissenserforschung
über die Textlesung und die Meditation bis hin zum abschliessenden
Rückblick, zeigen, dass wesentlich für solches Beten die
»Einstimmung auf Gottes Gegenwart«, die er mit dem Stimmen
der Instrumente vor einem Konzert vergleicht, »denn wenn nur
der Mund spricht, aber das Herz nicht auf den gerichtet ist, zu
dem er spricht, dann ist dies im eigentlichen Sinne kein Beten.«
So definiert Pater Gracian: »Inneres Beten heisst, dass der
Mund schweigt, während das Herz sich Gott im Innern vergegenwärtigt
und mit ihm spricht. Das mündliche Gebet empfängt von
ihm Geist und Leben.«
2.4 In der Französischen Schule
Im 17. und 18. Jahrhundert hat das Thema »inneres Beten«
besonders in Frankreich grosses Interesse gefunden. So stellt zum
Beispiel der in der Französischen Schule einflussreiche Franz
von Sales (1567-1622) die »oraison mentale« als das
stille, auch betrachtende Gebet des einzelnen der durch Formalismus
und Routine gefährdeten »oraison vocale« gegenüber
und nimmt ähnlich wie John Wyclif in seine Dreigliederung die
»oraison vitale« auf.
Die als Madame Guyon bekannt gewordene, früh verwitwete Ehefrau
und Mutter von fünf Kindern, Jeanne-Marie Guyon (1648-1717),
verdient unsere besondere Aufmerksamkeit: Die erste deutsche Übersetzung
ihres »Moyen court« wurde 1701 unter dem Titel »Kurzer
und sehr leichter Weg zum Inneren Gebet« veröffentlicht.
Sie versteht unter innerem Beten die »Hinwendung des Herzens
zu Gott, die innere Übung der Liebe.« Für sie bedeutet
»inneres Beten« eine Haltung, durch die das Leben selbst
zum Gebet, werden kann: »Es geht also darum, ein Beten zu
erlernen, das zu jeder Zeit geschehen kann, das von äusseren
Beschäftigungen nicht abbringt, das Prinzen, Könige, Priester,
Soldaten, Kinder, Handwerker, Arbeiter, Hausfrauen und Kranke ausüben
können.« (Madame Guyon)
Therese von Lisieux (Karmeliterin; 1873-1897) sagt: »Zu dieser
Zeit (einige Monate vor der Erstkommunion) hatte mich noch niemand
in das innere Gebet eingeführt, obwohl ich grosses Verlangen
danach empfand; doch Marie, der Ansicht, ich sei fromm genug, liess
mich nur meine mündlichen Gebete verrichten.« Wie bei
Teresa von Avila stehen hier »Beten« und »Gebete
verrichten« einander gegenüber. Dass aber auch das Chorgebet
und andere äußere Gebete, zum inneren Beten werden können
und sollen, zeigt ihr Bekenntnis: »Für mich ist das Gebet
ein Schwung des Herzens, ein einfacher Blick zum Himmel empor, ein
Schrei der Dankbarkeit und der Liebe, aus der Mitte der Prüfung
wie aus der Mitte der Freude; kurz, es ist etwas Grosses, Übernatürliches,
das mir die Seele ausweitet und mich mit Jesus vereint. Ich möchte
nicht, vielgeliebte Mutter, dass Sie glauben, ich verrichte die
gemeinsamen Gebete im Chor oder in der Einsiedelei ohne Andacht.«
2.5 In der Gegenwart
Bernhard Poschmann (Die Lehre vom christlichen Vollkommenheitsstreben):
»Das mündliche Gebet hat nach alledem seine Existenzberechtigung
nur als Ausdruck und Förderung des inneren Betens. Dieses ist
an sich unabhängig von jeder Form und verlangt auch für
sich allein eine besondere Pflege.« Die Hispanistin Erika
Lorenz, die mehrere Arbeiten zur Spanischen Mystik veröffentlicht
hat, kommt zu dem Ergebnis: »So hat das ›innere Gebet‹
also eine Struktur, die eigentlich alle Arten des ›Betens‹,
d.h. der Kommunikation mit Gott umfasst. Aber offensichtlich ist
der Kern doch die Kontemplation, das unmittelbare Gewahrwerden der
Gottesnähe. Ja, die Gottesgegenwart ist beim ›inneren
Gebet‹ wichtiger noch als das Reden oder Schweigen. Inneres
Gebet meint nicht einfach ein lautloses Sprechen mit Gott, sondern
die im Innern ganz auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit! Darum muss
es auch das mündliche Beten begleiten, soll dieses nicht ein
leeres Plappern und reine Zeitverschwendung sein. Der betende Mensch
wird sich der Gegenwart Gottes bewusst. Damit vereinheitlichen sich
die vielen Arten und Unterarten des Gebetes in einem wachen Aufmerken.«
3.0 Versuch einer Definition
Der Begriff »inneres Beten« bezeichnet das Wesen des
Gebets: die bewusste Hinwendung des Ich zum verborgen gegenwärtigen
Du Gottes. Die verschiedenen Formen des Gebets sind Ausdrucksweisen
des inneren Betens. Wir denken uns einen Baum und schreiben an die
Äste die verschiedenen Formen, in denen christliches Beten
vollzogen werden kann:
· das geformte Beten mit einem Gebetstext, auswendig oder aus einem
Buch, allein oder gemeinschaftlich
· das liturgische Beten, jede Form von Gottesdienst, die Eucharistiefeier
und auch das Stundengebet
· das persönlich-stille oder gemeinsame freiformulierte Beten
· das betrachtende (meditierende) Beten
· das schweigende Beten, das ein Mann aus einfacher Herkunft dem
Pfarrer von Ars mit den treffenden Worten beschrieben hat: »Gott
schaut mich an, und ich schaue ihn an«
· das rhythmische Beten, eine Form, bei der bestimmte Gebetsworte
wiederholend, eventuell im Rhythmus des Atems, gesprochen werden
(Jesus-Gebet)
Das Stichwort »inneres Beten« schreiben wir an den
Stamm- und Wurzelbereich. »Inneres Beten« meint nicht
eine weitere Gebetsform oder eine spezielle Gebetsart neben anderen;
es bildet nicht einen weiteren Ast am Baum. »Inneres Beten«
bezeichnet vielmehr das, was Beten erst zum Beten macht, was »Beten«
und »Gebete-Verrichten« voneinander unterscheidet. Bildhaft
gesprochen: Inneres Beten entspricht dem Fluss des Lebenssaftes,
der aus dem Erdreich über Wurzeln und Stamm die Äste und
Zweige mit Nahrung versorgt, ohne die sie »leer« und
ohne Leben sind.
Inneres Beten heisst, dass wir wach sind für die verborgene
Anwesenheit Gottes, dass wir entdecken, was er immer schon in uns
und um uns herum wirkt. Es heiß weiter, sich bewusst zu Gott
hinwenden, an Gott denken, zu Gott »du« sagen und dies
auch wirklich meinen.
In welcher Form (Äste und Zweige) wir dann diese Hinwendung
zu Gott ausdrücken, ist eine zweitrangige Frage. Alle Formen
haben ihren je eigenen Wert im aufmerksamen Umgang mit Gott. Auch
kann die eine Form dem einen Menschen mehr, dem anderen weniger
liegen. Fehlt dem Gebet, von welcher Ausdrucksform auch immer, jedoch
das innere Beten, so fehlt ihm die Seele.
Jesus hat das den Frommen seiner Zeit mit den Worten Jesajas (vgl.
Jes 29,13) in Erinnerung gerufen: »Der Prophet Jesaja hatte
recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk
ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es
ist sinnlos, wie sie mich verehren.« (Mk 7,6f; Mt 15,7-9).
Es mag viele hilfreiche Methoden für das praktische Gebetsleben
geben. Sie alle beziehen sich jedoch auf die Ausdrucksformen des
Betens, nicht auf den Grundakt des Betens selbst; und sie alle blieben
im Letzten wertlos, wenn ihnen die Grund-Haltung, eben das innere
Beten fehlte. Wenn inneres Beten die »Seele« des Gebets
und, wie Thomas von Aquin sagt, das Gebet im eigentlichen Sinne
die »Betätigung der Religion« ist, dann meint »inneres
Beten« das, was die christliche Art, Mensch zu sein, ausmacht.
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