Spiritualität - Ein »Megatrend«
der Gesellschaft
1.0 Die Sehnsucht nach mehr
Die Sehnsucht der Menschen nach Antworten auf die Grundfragen nach
dem Woher, Wohin, und Wozu des Lebens ist heute in den nach außen
so »säkularisierten« Gesellschaften der Wohlstandsländer
wieder stärker spürbar. Die Jagd nach dem »großen
Glück in der knappen Zeit«, wie sie von einer konsumorientierten
Gesellschaft propagiert wird, lässt offensichtlich viele Fragen
offen. Nüchterne soziologische Untersuchungen zeigen, dass
gerade in den großen Städten die Zahl der Menschen zunimmt,
die sich als gläubig betrachten, wieder zu beten beginnen,
ja am Sonntagsgottesdienst teilnehmen. Bei der großen Wiener
Stadtmission Ende Mai ist etwas davon sichtbar geworden.
2.0 Totgesagte leben länger
Theologen und Soziologen sprechen von einem »Megatrend Respiritualisierung«.
Das allein ist schon interessant, widerspricht es doch alles Prognosen,
die noch vor 30 Jahren Allgemeingut waren. Freilich gehört
zum Befund, dass dieser Trend nicht von vornherein den großen
christlichen Kirchen zugute kommt. Vieles aus dem historischen Fundus
der Menschheit bis hin zum krassesten Aberglauben hat plötzlich
wieder Konjunktur. Der »Schlaf der Vernunft« gebiert
auch Ungeheuer.
3.0 »Christus - Hoffnung Europas«
Aber die neue »Offenheit« für die Transzendenz,
das die materielle Welt Überschreitende, beinhaltet auch große
Chancen. Chancen darauf, dass die Menschen die befreiende und heilende
Kraft der Botschaft des Evangeliums wieder entdecken. »Christus
- Hoffnung Europas« heißt das Motto des Mitteleuropäischen
Katholikentages, der von acht europäischen Bischofskonferenzen
von Bosnien bis Polen gemeinsam getragen wird. Dieses Motto gilt
für den Einzelnen wie für Gemeinschaften bis zur kontinentalen
Union; es beinhaltet die Hoffnung, dass durch die Begegnung mit
Christus das vielfach gebrochene und bedrohte Leben der Menschen
wieder ganz wird.
4.0 Das Evangelium neu buchstabieren...
Für die Kirche(n) bedeutet die neue »Offenheit«
der suchenden Menschen eine große Herausforderung. Mühsam
lernen sie, das Evangelium, die »gute Nachricht«, so
neu zu buchstabieren, dass die Menschen verstehen, worum es geht.
Am Beginn des dritten Jahrtausends steht die Kirche in einem großen
Transformationsprozess, der auch manche negative Begleiterscheinungen
mit sich bringt. Und doch sollte nicht übersehen werden, was
das ganz alltägliche Wirken der Kirche in Seelsorge und Religionsunterricht,
in karitativer Tätigkeit und kulturellem Engagement hier und
heute für die Gesellschaft bedeutet. Es ist die Kirche, die
auf unspektakuläre Weise den Wurzelgrund der Nächstenliebe
und Solidarität hegt und pflegt, ohne den die Gesellschaft
zum Kampf aller gegen aller verkommen würde. Die Demokratie
lebt von Grundlagen, die sie selbst nicht schaffen kann, hat ein
weiser Staatsrechtler formuliert: Die Tätigkeit der Kirche(n)
trägt wesentlich dazu bei, dass diese Grundlagen stabil bleiben.
5.0 Als Christ in der Gesellschaft
Die katholische Kirche in Österreich, und nicht nur hier, hat
sich schon vor Jahrzehnten dafür entschieden, dass Bischöfe
und Priester dem tagespolitischen Streit fernbleiben sollen. Umso
mehr fühlt sie sich verpflichtet, zu Grundsatzfragen Stellung
zu nehmen, wenn sie Recht und Würde des Menschen in Gefahr
sieht. Und umso mehr sind auch die einzelnen Christen gefordert,
sich im Alltag zu engagieren, auch im politischen Alltag. Sie sollen
das tun ohne Mandat der kirchlichen Verantwortungsträger, im
Respekt vor der Tatsache, dass Christen bei gleicher Sorgfalt in
politischen Tagesfragen zu unterschiedlichen Lösungen kommen
können, und in der Bereitschaft zur Zusammenarbeit über
die Grenzen politischer Gruppierungen hinaus, wenn es um das Allgemeinwohl
geht.
Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien, in: Wiener
Zeitung, 19.09.03; Die Überschriften wurden eingefügt
Mehr zum »Megatrend Spiritualität« findet sich in der Zeitschrift
»Dialog«
(4/2003).
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