Jesus-Mantram - Meditation in der
Tradition der Ostkirche
1.1 Beten ohne Unterlass? - die Suche beginnt
Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach
ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser
Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist
meine Habe: Auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem
Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der
vierundzwanzigsten Woche nach Pfingsten kam ich in der Kirche zur
Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die
Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers; der
lautet: »Betet ohne Unterlass«. Diese Worte prägten
sich mir besonders ein, und ich begann darüber nachzudenken,
wie man wohl ohne Unterlass beten könne, wenn doch jeder Mensch
auch andere Dinge verrichten muss, um sein Leben zu erhalten. Ich
schlug in der Bibel nach und sah dort mit eigenen Augen dasselbe,
was ich gehört hatte, und zwar, dass man ohne Unterlass beten,
bei allem Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten und darin wachen
muss in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen.
Ich dachte viel darüber nach, wusste aber nicht, wie das zu
deuten sei.
»Was tu ich nur?« dachte ich bei mir. »Wo finde
ich einen, der es mir deutet? Ich will in Kirchen gehen, die im
Rufe stehen, gute Prediger zu haben; gewiss werde ich dort eine
Unterweisung finden.« Und so tat ich. Ich hörte da sehr
viele gute Predigten über das Gebet. Doch waren es Belehrungen
über das Gebet im allgemeinen: was das Gebet ist, wie man beten
soll, welche Frucht das Gebet bringt; darüber aber, wie man
im Gebet fortschreiten könne, redete niemand. Wohl war da einmal
eine Predigt über das Gebet im Geist und über das unablässige
Gebet; doch wurde nicht gesagt, wie man zu diesem Gebet gelangen
könne. So brachte mich denn das Hören der Predigten nicht
zu dem Gewünschten.
1.2 Erste undeutliche Spuren
Als ich mich daher an ihnen satt gehört und keine Vorstellung
bekommen hatte, wie man ohne Unterlass beten soll, hörte ich
auf, die öffentlichen Predigten zu besuchen, beschloss aber,
mit Gottes Hilfe nach einem erfahrenen und wissenden Mann zu suchen,
der mir das Beten ohne Unterlass erklären könnte, da ich
mich ja eben zu diesem Wissen hingezogen fühlte.
So pilgerte ich lange von Ort zu Ort; las immer in der Bibel und
forschte, ob es nicht irgendwo einen geistigen Lehrer oder einen
frommen, erfahrenen Führer gäbe. Nach einiger Zeit sagte
man mir, dass in einem Dorf seit langer Zeit schon ein Herr lebe
und dort ein frommes Leben führe, um seine Seele zu retten:
er habe in seinem Haus eine Kirche, ginge niemals aus und bete immer
zu Gott und lese ohne Unterbrechung in Büchern, die das Seelenheil
fördern. Da ich dies hörte, ging ich nicht, nein, ich
lief in das mir genannte Dorf; ich kam hin und fand dort auch den
Gutsbesitzer.
»Was ist es, was dich zu mir führt?« fragte er
mich. »Ich habe gehört, dass Sie ein frommer und kluger
Mann sind; darum bitte ich sie auch, um Gottes willen, mir zu erklären,
was es heißt, wenn der Apostel sagt: »Betet ohne Unterlass«,
und auf welche Weise man auch ohne Unterlass beten kann. Ich wünsche
sehr dies zu erfahren, kann ich es doch ganz und gar nicht verstehen.«
Der Herr schwieg, blickte mich aufmerksam prüfend an und sagte:
»Das unablässige Gebet ist das ununterbrochene Streben
des menschlichen Geistes zu Gott. Um in dieser süßen
Übung fortzuschreiten, ist es erforderlich, möglichst
oft Gott zu bitten, er möge einen lehren, ohne Unterlass zu
beten. Bete mehr und mit größerer Inbrunst; das Gebet
selber wird dir offenbaren, auf welche Weise es ohne Unterlass gebetet
werden kann; alles kommt zu seiner Zeit.«
Nachdem er dies gesagt hatte, ließ er mir Essen bringen, gab
mir eine Wegzehrung und entließ mich. So hatte er es mir denn
nicht gedeutet.
Da ging ich denn wieder meines Weges; ich dachte und dachte, las
und las, grübelte und überlegte, was mir der Herr gesagt
hatte, und konnte es doch nicht verstehen; ich wollte es aber sehr
verstehen, so sehr, dass ich in den Nächten keinen Schlaf fand.
An die zweihundert Werst (ein Werst ist ca. ein Kilometer) mochte
ich so gepilgert sein und kam dann in eine große Gouvernementstadt.
Ich sah dort ein Kloster. Ich machte in einer Herberge halt und
erfuhr, dass der Abt des Klosters sehr gütig, fromm und gastfreundlich
sei und Pilger bei sich aufnähme. Ich ging zu ihm; er nahm
mich freundlich auf, hieß mich Platz nehmen, und wollte mich
speisen.
»Heiliger Vater«, sagte ich, Eure Bewirtung ist mir
nicht vonnöten. »Ich wünschte aber, dass ihr mir
eine geistliche Unterweisung erteilt, wie ich meine Seele retten
soll.«
»Wie du deine Seele retten sollst? Handle nach den Geboten
und bete zu Gott, dann wirst du auch gerettet werden.«
»Ich höre, dass man ohne Unterlass beten soll, weiß
aber nicht, wie man ohne Unterlass betet, und kann es gar nicht
mal fassen, was es bedeutet, ohne Unterlass zu beten. Ich bitte
Euch, mein Vater, erklärt mir das.«
»Ich weiß nicht, lieber Freund, wie ich es dir noch
erklären sollte. Doch halt, ich habe hier ein Buch, da ist
es erklärt.« Und er brachte des Heiligen Dimitrij ›Geistliche
Unterweisung des inneren Menschen‹. »Lies mal hier auf
dieser Seite.« Ich las folgendes: »Die Apostelworte
›Betet ohne Unterlass‹ sind zu verstehen als ein Gebet,
das im Geist verrichtet wird; denn der Geist kann immer in Gott
eindringen und kann ohne Unterlass zu ihm beten.«
»Erklärt mir das, auf welche Weise der Geist immer in
Gott eindringen kann, nicht abgelenkt wird und unablässig betet.«
»Dies ist überaus schwierig, es sei denn, dass es einem
Gott selber gibt«, sagte der Abt. Und so erklärte er
es mir nicht.
Nachdem ich bei ihm übernachtet und ihm am Morgen für
die freundliche Aufnahme gedankt hatte, machte ich mich wieder auf
den Weg und wusste selber nicht, wohin.
1.3 Wer suchet, der - wird gefunden!
Mein Nichtverstehen bekümmerte mich. Und um das Herz zu erfreuen,
las ich die Heilige Bibel. So ging ich fünf Tage lang auf einer
Landstraße; endlich holte mich gegen Abend ein altes Männchen
ein, allen Anschein nach geistlichen Standes. Auf meine Frage sagte
mir der Alte, er sei Eremit und lebte in einer Einsiedelei, die
zehn Werst entfernt läge, abseits von der Landstraße,
und er forderte mich auf, mit ihm in seine Einsiedelei zu kommen.
»Bei uns«, sagte er »werden Pilger aufgenommen,
werden beruhigt und zusammen mit anderen Frommen in einem Gasthof
gespeist.«
Ich wollte aus irgendeinem Grunde nicht dorthin und antwortete also
auf seine Einladung: »Meine Ruhe hängt nicht von der
Herberge ab, sondern von einer geistlichen Belehrung; auch auf Nahrung
bin ich nicht bedacht, denn ich habe in meinem Beutel noch viel
Hartbrot.«
»Und was ist es denn für eine Belehrung, die du suchst?
Was ist es, was du nicht verstehen kannst? Komm nur, komm, lieber
Bruder, zu uns; wir haben erfahrene Starzen, die können dich
wohl geistig speisen und dir den rechten Weg zeigen im Lichte des
Wortes Gottes und der Unterweisung der heiligen Väter.«
»Ja, seht, Vater, es mag ein Jahr her sein, dass ich in der
Messe bei der Lesung das Gebot hörte: ›Betet ohne Unterlass‹.
Da ich dies nicht verstehen konnte, begann ich in der Bibel zu lesen.
Und auch dort fand ich an vielen Stellen das Gebot Gottes, man solle
ohne Unterlass beten, immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort, nicht
nur bei jeglicher Beschäftigung, nicht nur im Wachen, sondern
sogar im Schlaf. ›Ich schlafe, aber mein Herz wacht‹
(Hld 5,2). Dies setzte mich sehr in Erstaunen und ich konnte nicht
verstehen, wie man dies erfüllen kann und welche Wege dahin
führen; ein lebhaftes Wünschen und Neugierde wurde in
mir wach; Tag und Nacht kam mir dies nicht aus dem Sinn. Darum bin
ich hier in verschiedene Kirchen gegangen und habe Predigten über
das Gebet gehört; aber so viele Predigten ich auch hörte,
fand ich in keiner eine Belehrung, wie man ohne Unterlass beten
müsse; immer war nur die Rede von der Vorbereitung zum Gebet
oder von den Früchten des Gebets und dergleichen, es war aber
da keine Unterweisung, wie man ohne Unterlass beten soll und was
ein solches Gebet zu bedeuten habe. Ich habe oft in der Bibel gelesen
und an ihr das Gehörte nachgeprüft; ich habe aber dabei
nicht die gewünschte Erkenntnis gefunden. So bin ich bis heute
in Unwissenheit und Unruhe verblieben.«
2.0 Eine geheime Wissenschaft
Der Starez bekreuzigte sich und begann also: »Danke Gott,
geliebter Bruder, dass er dir dieses unüberwindliche Verlangen
nach der Erkenntnis des unablässigen inneren Gebetes offenbarte.
Erkenne hierin die Berufung Gottes und sei stille, nachdem du dich
davon überzeugt hast, dass bis zu dieser Stunde eine Prüfung
dir auferlegt wurde, ob dein Wille auch der Stimme Gottes gehorcht,
und da dir gegeben wurde, zu verstehen, dass man nicht durch die
Weisheit dieser Welt und nicht durch äußeren Wissensdurst
das himmlische Licht, das unablässige innere Gebet erlangen
kann, sondern im Gegenteil: durch die Armut des Geistes und durch
tätige Erfahrung wird es einfältigen Herzens erworben.
Darum ist es auch gar nicht erstaunlich, dass du von dieser wichtigen
Sache des Gebets nichts vernehmen und die Wissenschaft nicht erfahren
konntest, wie man dazu gelange, ohne Unterlass in dem Tun desselben
zu beharren. Und dann, um die Wahrheit zu sagen, obwohl nicht wenig
über das Gebet gepredigt wird und es auch viele Lehrmeinungen
verschiedener Schriftsteller darüber gibt, so unterweisen diese
doch, sofern ihre Erörterungen zumeist auf Verstandeserkenntnis,
auf Erwägung der natürlichen Anschauung, nicht aber der
Erfahrung beruhen, eher über alles, was zum Gebete gehört,
als über das Wesen des Gegenstandes selber. So mancher weiß
wunderbar über die Notwendigkeit des Gebets zu sprechen; ein
anderer wieder über seine Kraft und seine Segnungen; ein dritter
über die Mittel, die zum vollkommenen Gebet führen, das
heißt darüber, dass es fürs Gebet des Eifers, der
Aufmerksamkeit, der Herzenswärme keuschen Denkens, der Versöhnung
mit den Feinden, der Demut, der Zerknirschung und dergleichen bedarf.«
2.1 Wissen versus Gelehrtheit
Und der Starez setzte fort: »Aber was ist das Gebet? Und
wie lernt man beten? Für diese allerwichtigsten Fragen wird
man bei den Predigern unserer Zeit sehr selten ausführliche
Erklärungen finden können und zwar deshalb, weil solche
Erklärungen schwieriger zu erfassen sind, als alle oben aufgezählten
Erörterungen. Auch bedürfen sie eines geheimen, geheiligten
Wissens, nicht nur einer schulmäßigen Gelehrtheit. Am
beklagenswertesten ist aber, dass die eitle, natürliche Klugheit
einen nötigt, Gott mit menschlichem Maß zu messen. Viele
urteilen über das Gebet ganz verkehrt, wenn sie glauben, dass
die vorbereitenden Mittel und die frommen Werke das Gebet erzeugen,
nicht aber das Gebet diese frommen Werke und alle Tugenden gebiert.
In diesem Falle verstehen sie die Früchte oder die Folgen des
Gebets nicht richtig als Mittel und Wege zu ihm hin und erniedrigen
eben dadurch des Gebetes Kraft. Und dies läuft ganz der Heiligen
Schrift zuwider: denn der Apostel Paulus unterweist im Gebet mit
folgenden Worten: ›Darum ermahne ich vor allem, dass Gebete
geschehen‹ (1 Tim 2,1). Hier, nach diesem Wort des Apostels,
besteht die erste Unterweisung im Gebet darin, dass er das Gebet
an allererste Stelle rückt: ›Darum ermahne ich vor allem,
dass Gebete geschehen‹. Es gibt viele fromme Werke, die vom
Christen verlangt werden, aber das Werk des Gebets muss vor allen
anderen Werken stehen, denn ohne das Gebet kann kein anderes gutes
Werk verrichtet werden. Unmöglich ist es, ohne Gebet den Weg
zu Gott zu finden, die Wahrheit zu erkennen, das Fleisch mit seinen
Leidenschaften und Lüsten zu kreuzigen, sein Herz mit dem Lichte
Christi zu durchleuchten und die selige Verbindung mit Gott zu finden.
Dies alles kann nicht geschehen ohne vorausgehendes häufiges
Gebet. Ich sage häufiges Gebet, denn die Vollkommenheit und
Richtigkeit des Gebets geht über unsere Möglichkeiten,
wie der Apostel sagt: ›Denn wir wissen nicht, um was wir beten
sollen, wie es ich ziemt‹ (Röm 8,26).
Folglich ist nur die Häufigkeit, die Unablässigkeit als
Mittel unserem Vermögen zugefallen, um zur Reinheit des Gebetes
zu gelangen, welche die Mutter eines jeden geistigen Gutes ist.
›Wirb um die Mutter, und sie wird dir Kinder gebären‹,
sagt der heilige Isaak der Syrer; lerne das erste Gebet dir zu eigen
zu machen, und leicht wirst du dann alle Tugenden erlangen. Darüber
aber bestehen nur unklare Vorstellungen, und wer mit der Übung
und mit den tiefen inneren Lehren der Väter nicht vertraut
ist, wird wenig darüber sagen können.«
2.2 Eine erste praktische Unterweisung
So redend, waren wir unvermerkt fast bis zur Einsiedelei gekommen.
Um diesen weisen Starez nicht aus den Augen zu verlieren, sondern
möglichst schnell eine Erfüllung meines Wunsches zu finden,
beeilte ich mich, ihm zu sagen: »Erweist mir die Güte,
ehrwürdiger Vater, erklärt mir, was bedeutet das - unablässiges
innerliches Gebet, und wie kann man es erlernen; ich sehe, dass
ihr es genau und aus Erfahrung kennt.«
Der Starez nahm meine Bitte voller Liebe entgegen und forderte mich
auf: »Komm jetzt zu mir, ich will dir ein Buch der heiligen
Väter geben, und auf Grund dieses Buches wirst du mit Gottes
Hilfe klar und genau verstehen und beten lernen.«
Wir betraten die Klause, und der Starez sagte folgendes: »Das
unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene,
unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi
mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich
seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen
bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf.
Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: ›Herr Jesus
Christus, erbarme dich meiner‹! Wenn sich nun einer an diese
Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren
und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten,
derart, dass er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und
es wird sich ganz von selber aus ihm lösen. Verstehst du nun,
was das unablässige Gebet ist?«
»Sehr wohl habe ich es verstanden, mein Vater! Um Gottes Willen
unterweist mich, wie ich es erlange«, rief ich voller Freude.
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