Sekten - Religiöse Sondergemeinschaften
1.0 Definitionsversuche
Laut Wörterbuch ist eine Sekte eine kleine Glaubensgemeinschaft
mit bestimmten Lehren, die sich von einer größeren Religionsgemeinschaft
abgespalten hat. Demnach wäre so gut wie keine der in unserer
Gesellschaft bekannten Glaubensgemeinschaften eine Sekte: Sowohl
die Zeugen Jehovas als auch Scientology hätten zu viele Mitglieder
um in diese Definition zu passen.
Doch gerade die Zeugen Jehovas
werden oft als »klassische« Sekte bezeichnet. Daher
müssen wir auf die Suche nach einer anderen Definition gehen,
da die Zahl der Mitglieder kein gültiger Maßstab ist.
Im Anschluss daran, sollen Wesen und Vorgehen derartiger Gruppen
am Beispiel der Zeugen Jehovas analysiert werden.
1.1. Was macht einen Gruppe zur Sekte?
Ob eine Gemeinschaft eine Sekte ist, liegt an ihrer Struktur, ihrem
Aufbau, und nicht unbedingt an ihrer Lehre.
Auch die Zahl der Mitglieder
ist nicht entscheidend. Es gibt Sekten in allen Religionen und auch
eine zunehmende Zahl nichtreligiöser Sekten.
Als Sekte wird im allgemeinen eine Gemeinschaft verstanden, die
in irgendeiner Form abhängig macht, indem sie die Freiheit
ihrer Mitglieder massiv einschränkt. Die Mitglieder geben ihre
Entscheidungskompetenz, auch in alltäglichen Fragen, an die
Gemeinschaft bzw. die Führung der Gemeinschaft ab.
Werden die folgenden drei Merkmale erfüllt kann bei einer
Gemeinschaft von einer Sekte gesprochen werden:
· Eine Sekte hat eine Führung, die alle Fragen regelt
· Eine Sekte schottet sich vom Rest der Gesellschaft ab
· Eine Sekte kontrolliert ihre Mitglieder
1.2. Wie erkennt man eine Sekte?
Sekten sind Gemeinschaften, die oft außerbiblische Wahrheits-
und Offenbarungsquellen mit christlichen Überlieferungen verbinden.
Sie verstehen sich als ideale, gottgewollte Gemeinschaft, neben
der keine andere Gemeinschaftsbildung ein Daseinsrecht hat. Meist
sind sie endzeitlich ausgerichtet: die Gruppe versteht sich als
die vor dem Weltuntergang versammelte Gemeinde der Geretteten. Sie
lehnen jede Weltverantwortung ab indem sie sich von politischen
Auseinandersetzungen distanzieren und keine Ämter wahr nehmen.
Geholfen wird nur den Mitgliedern, nach außen hin wird nur
missionarisch gearbeitet.
Häufig sind in religiösen Sekten folgende Kennzeichen
anzutreffen:
· unkritische, willkürliche Auslegung der Bibel
· ausschließlicher Anspruch auf Wahrheit
· alleinige Kenntnis des Weges, der zum Heil führt
· Elitebewusstsein, mögliche Folge: Fanatismus
· absoluter Gehorsam der Führung gegenüber
· Erwartung des nahen Endes der Welt
1.3. Wie gehen Sekten vor?
Sie sprechen vereinsamte, gestresste, zukunftsängstliche und
entwurzelte Menschen an und machen ihnen »attraktive«
Versprechungen wie Stärke, Halt, Gemeinschaftsgefühl, totale
Wahrheit, heile Welt etc. Häufig bringen sie neu angeworbene
Mitglieder dazu von heute auf morgen ihr komplettes vorheriges Leben
abzubrechen, um in der neuen Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten.
Hierbei erhält die Sekte häufig den gesamten Besitz und
verbietet auch nach und nach alle anderen sozialen Kontakte, wodurch
es auch bis zum Identitätsverlust mit neuer Namensgebung kommt.
Die Schulungen und Gruppenkontrollen die in Sekten stattfinden
bearbeiten die Mitglieder so, dass sie zu willigen marionettenhaften
Menschen werden, die keine Kritikfähigkeit mehr besitzen.
1.4. Welche Ziele haben Sekten?
Das Hauptziel der meisten Sekten liegt darin möglichst viele
Mitglieder einzufangen. Dieses versuchen die jeweiligen Führer
mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen.
Sie schrecken dabei auch nicht vor manipulativen Aktionen bei Menschen
in Not zurück, im Gegenteil, gerade solche Situationen nutzen
sie aus. Um neue Mitglieder zu gewinnen setzen sie meist aufdringliche
und hartnäckige Werbung ein. Einige Sekten sind auch nur an
dem Geld und sonstigen Besitz ihrer Mitglieder interessiert.
1.5. Warum wenden sich so viele Menschen von den
christlichen Kirchen ab?
Wir scheinen in einer Zeit zu leben, in der die Menschen geradezu
auf Wunder warten. Immer mehr Leute leiden unter großen seelischen
Belastungen im täglichen Leben und fühlen sich von der
Kirche im Stich gelassen. Treffen sie in solchen Situationen auf
Sektenmitglieder, die ihnen etwas über ihre Gemeinschaft erzählen,
die für sie wie eine Familie, also ein Auffangnetz sein kann,
scheint der Schritt klein der notwendig ist, um sich einer Sekte
anzuschließen.
Ursachen für das große Interesse an Sinnangeboten außerhalb
des Christentums sind
· die menschliche Unzufriedenheit: Wohlstand ist nicht gleichzusetzen
mit seelischem Wohlbefinden und innerer Zufriedenheit
· die ewige Frage nach dem Sinn: Die Kirche gibt oft Antworten auf
Fragen die kein Mensch stellt. Die Folge ist, dass die Leute versuchen
ihre Antworten woanders zu finden
· die geringe Strahlkraft der etablierten Kirche: Die Menschen verlieren
das Interesse an einer monotonen, reformmüden Religionsgemeinschaft
Die Folge ist zunächst Desinteresse an kirchlichen Inhalten,
dann an der Kirche selbst und schließlich der Kampf gegen
sie. Genau hier liegt der Angriffspunkt für Sekten.
2.0. Kritische Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas
2.1 Die Geschichte der Zeugen Jehovas
1852 wird Charles Taze Russell, der spätere Gründer der
Zeugen Jehovas, in Old Allegheny (heute ein Stadtteil von Pittsburgh)
im Bundesstaat Pennsylvania, USA geboren. Er durchschritt viele
Glaubenskirchen und übernahm schließlich die Vorstellung
der berechenbaren Wiederkunft Christi. Nach Ansicht der Zeugen Jehovas
erhielt er von Jehova den Auftrag, die »Wahrheit« wieder
herzustellen, welche in den Kirchen durch teuflische Einflüsse
verlorengegangen sei.
1881 gründet Russell die Vereinigung »Watch Tower Bible
and Tract Society« in Pittsburgh und wird ihr Präsident.
1909 zieht die Gesellschaft von Allegheny nach Brooklyn (New York).
Seither ist dies ihr Hauptsitz.
1916 stirbt Russell und der Richter Joseph Franklin Rutherford
wird sein Nachfolger. Er übt sein Präsidentenamt als Alleinherrscher
mit eiserner Hand aus. Die von seinem Vorgänger Russell getroffenen
Vorkehrungen wirft er bald über den Haufen. Er stellt wesentliche
Richtlinien auf die, die Jehovas Zeugen bis heute prägen.
Nach 1925 erleidet die Organisation einen starken Rückgang
ihrer Anhängerzahl durch die erneute Enttäuschung der
nicht erfüllten Prophezeiungen.
1931 wird der Name »Jehovas Zeugen« zur offiziellen
Bezeichnung der Bewegung. Davor nannten sie sich »(Ernste)
Bibelforscher«.
1931 teilt Rutherford die Mitglieder seiner Organisation in zwei
Klassen ein: die obere Klasse, die »Geistgesalbten«
umfasst genau 144 000 Mitglieder. Diese Zahl stammt aus dem neutestamentlichen
Buch der Offenbarung. Die untere Klasse ist zahlenmäßig
nicht limitiert. Die »Gesalbten« werden einmal mit Jehova
im Himmel sein. Der unteren Klasse bleibt nur eine irdische Paradieshoffnung.
1942 stirbt Rutherford und Nathan Homer Knorr wird dritter Präsident.
Er baut die Gesellschaft zu einem international erfolgreichen Geschäftsunternehmen
aus.
1942 wird in South Lansing (New York) die Gileadschule eingerichtet,
in der besonders interessierte und engagierte Zeugen sich zu Missionaren
schulen lassen können.
1961 geben sie ihre eigene, recht umstrittenen Bibelübersetzung
mit dem Namen »Neue-Welt-Übersetzung« heraus.
Ab 1977 gehen die Mitgliederzahlen zurück, da nichts von den
Prophezeiungen eintraf. Knorr stirbt. Frederik Wiliam Franz tritt
an seine Stelle. Unzählige Bücher, Zeitschriften, Kassetten,
Übersetzungsprogramme usw. bringen die Lehren der Gesellschaft
weltweit unters Volk.
1992 wird Milton G. Henschel, nach dem Tod von Franz, fünfter
Präsident.
Die Jehovas Zeugen bezeichnen ihre Organisationsform als »theokratisch«.
Das heißt, dass die Watch Tower Society, zu deutsch »Wachturmgesellschaft«,
vom im Himmel herrschenden Christus als offiziellen Mitteilungskanal
erwählt wurde. Wer sich der Gesellschaft widersetzt, beispielsweise
durch Hinterfragen dieser absolutistischen Führungsgewalt,
widersetzt sich somit Jehova. Er wird aus der Organisation und somit
von Gott ausgeschlossen.
2.2 Der Alltag eines Zeugen Jehovas
Das Leben eines Zeugen Jehovas ist durch Vorgaben der Wachturmgesellschaft
streng geregelt. Es wird zwar nicht jedes Verbot ausdrücklich
in den Publikationen genannt, aber Jehovas Zeugen wissen sehr genau,
was erlaubt ist und was Jehova bzw. die Wachturmgesellschaft nicht
wünscht.
Persönlicher Umgang mit Menschen, die keine Zeugen Jehovas
sind, ist in der Regel zu vermeiden. Die Lektüre kritischer
Bücher und erst recht Literatur von ehemaligen Mitgliedern
gilt als verwerflich. Auch die Mitgliedschaft in Sportvereinen usw.
war lange Zeit verpönt.
Viele Feste wie Weihnachten, Geburtstage, Fasching etc. werden
als »heidnisch« abgelehnt. Parteien, Gewerkschaften
usw. werden kritisch gesehen. Viele Jahre war den Zeugen Jehovas
nicht nur der Wehrdienst, sondern auch der Wehrersatzdienst verboten.
Viele Jahrzehnte haben Jehovas Zeugen an keiner Wahl teilgenommen.
In jüngster Zeit zeigen sie sich in dieser Frage nach außen
kompromissbereit. Ihre kritische Haltung zum Staat behalten sie dennoch.
Die Zeugen dürfen mit Aussteigern nicht in Kontakt treten.
Dies gilt als schweres, ausschlusswürdiges Verbrechen.
Die ehemaligen Mitglieder werden von der Organisation als »Abtrünnige«
bezeichnet. Gegen jemanden, der sich nicht an die Weisungen der
Zentrale hält und sich auch nicht in einem Gespräch wieder
den rechten Weg weisen lässt, wird ein internes Rechtsverfahren
eingeleitet und anschließend wird er ausgeschlossen. Die Zeugen
Jehovas bezeichnen diesen Vorgang als »Gemeinschaftsentzug«.
Next page »
|
|