› Christentum - In den Spuren Jesu Christi

1.0 Spuren im Sand

Eines Nachts hatte ich einen Traum:
Ich ging am Meer entlang mit meinem Herrn.
Vor dem dunklen Nachthimmel
erstrahlten, Streiflichtern gleich,
Bilder aus meinem Leben.
Und jedes Mal sah ich zwei Fußspuren im Sand,
meine eigene und die meines Herrn.

Als das letzte Bild an meinen Augen
vorübergezogen war, blickte ich zurück.
Ich erschrak, als ich entdeckte,
daß an vielen Stellen meines Lebensweges
nur eine Spur zu sehen war.
Und das waren gerade die schwersten
Zeiten meines Lebens.

Besorgt fragte ich den Herrn:
»Herr, als ich anfing, dir nachzufolgen,
da hast du mir versprochen,
auf allen Wegen bei mir zu sein.
Aber jetzt entdecke ich,
daß in den schwersten Zeiten meines Lebens
nur eine Spur im Sand zu sehen ist.
Warum hast du mich allein gelassen,
als ich dich am meisten brauchte?«

Da antwortete er: »Mein liebes Kind,
ich liebe dich und werde dich nie allein lassen,
erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten. Dort, wo du nur eine Spur
gesehen hast,
da habe ich dich getragen.«

Margaret Fishback Powers
Copyright © 1964 Margaret Fishback Powers
Copyright © der deutschen Übersetzung 1996 Brunnen Verlag Gießen.
www.brunnen-verlag.de

2.0 Die Kunst des Anfangs

In der Wüste lebte ein Mönch, der in seiner Praxis nachlässig geworden und allmählich so sehr seinen schlechten Gewohnheiten unterlegen war, dass es ihm, wie er es auch anstellte, nicht gelang, einen wirklichen Neuanfang zu machen. Schließlich begab er sich verzweifelt zu einem Altvater, der in der Nähe lebte, und erzählte ihm, wie es um ihn bestellt war. Der Altvater hörte ihm aufmerksam zu und erwiderte: »Ich habe einmal folgende Geschichte gehört: Ein Mann ließ ein Stück Ackerland eine Weile lang brachliegen. Als er es wieder nutzen wollte, war es von Disteln und dornigem Gestrüpp überwuchert. Und so schickte er am nächsten Tag seien Sohn, um den Acker zu jäten. Wie der Sohn sah, in welchem Zustand der Acker war, verlor er den Mut und sagte sich: ›Wie soll ich bloß jemals all dies Unkraut ausreißen und fortschaffen können.‹ Und so legte er sich einfach in den Schatten eines Baumes und schlief. Eine Weile später kam der Vater vorbei und wollte schauen, wie der Sohn mit der Arbeit vorankam. Als er ihn müßig unter dem Baum liegen sah, fragte er ihn: ›Warum hast du noch nicht mit der Arbeit begonnen?‹ Der Sohn antwortete: ›Als ich sah, in welch verwildertem Zustand der Acker ist, verlor ich den Mut und legte mich schlafen.‹ Der Vater hatte einen Verstand und sagte: ›Wenn du täglich nur so viel Land urbar machst, wie von dein Körper im Liegen abgedeckt wird, wirst du nicht verzagt sein und allmählich mit der Arbeit vorankommen.‹ Dem Sohn gefiel der Vorschlag des Vaters. Er machte sich sogleich an die Arbeit, und in wenigen Tagen war der ganze Acker gejätet und urbar gemacht.
Höre Bruder, wenn du genauso verfährst und täglich nur ein kleines Stück vom Acker deiner schlechten Gewohnheiten jätest, wirst du bald deinen Geist gereinigt haben und wieder frohen Herzens Gott dienen können.«

3.0 Versuchungen

Ein Einsiedler flehte zu Gott, dass er alle Leidenschaften und Anfechtungen von ihm nehme. Nach einer Weile schien es ihm, dass sein Gebet Erhörung gefunden hatte, da keine Beunruhigung mehr in seinem Geist auftauchte. Er begab sich zu seinem geistlichen Vater und sagte zu ihm: »Ich habe Ruhe und Frieden erlangt. Gott hat mein Gebet erhört und mich von allen Leidenschaften und Anfechtungen befreit.« Der alte Mann aber sprach zu ihm: »Deine Ruhe und dein Frieden taugen nichts für die Entwicklung deiner Seele. Gehe und bete zu Gott, dass die Leidenschaften und Anfechtungen wieder zurückkehren, denn gerade durch sie macht deine Seele Fortschritte.«

4.0 Abgeschiedenheit

Es waren drei Freunde, die gemeinsam die Mönchsweihe genommen hatten. Der eine begann danach für den Frieden unter den Menschen zu arbeiten, der andere wollte sich um die Kranken sorgen, und der letzte begann das Leben als Einsiedler in der Wüste. Der erste mühte sich nun inmitten der Streitigkeiten der Menschen und war nicht imstande, sie zu schlichten. Der Verdruss überkam ihn, und er suchte den auf, der die Kranken betreute. Aber auch dieser war geistig nicht vorangekommen. Die beiden entschlossen sich, ihren Freund in der Wüste zu besuchen. Sie erzählten ihm von ihren Schwierigkeiten und fragten, wie es ihm denn ergangen sei. Der Freund schwieg eine Weile, nahm dann den Wasserkrug und leerte Wasser in eine Schale. »Schaut wie milchig trübe das Wasser jetzt ist.« Und nach einer Weile des Wartens sagte er: »Seht, wie durch das Ruhenlassen das Wasser klar und durchsichtig geworden ist.« Die beiden schauten hinein und konnten ihre eigenen Gesichter wie in einem Spiegel sehen. Und der Freund sagte zu ihnen: »Wenn man viel unter den Menschen weilt, kann der unruhige Geist seine eigenen Fehler nicht sehen, doch wenn man ruhig und abgeschieden von allem in Einsamkeit verweilt, dann wird der Geist still, und man erkennt die eigenen Mängel.«

5.0 Arbeit und Gebet

Als der heilige Antonius in der Wüste lebte, schlich sich der Überdruss in seine Seele, und der Geist war von Verwirrung und Zweifel bedrängt. Er flehte zu Gott: »Herr, wie kann ich heil werden, so dass ich nicht mehr unter meinen Gedanken leide? Was soll ich tun in meiner Bedrängnis?«
Wie er nach einer Weile aufstand und ins Freie ging, sah er jemanden, der ihm glich, an seinem Platz sitzen und arbeiten. Nach einer Weile stand dieser von der Arbeit auf und hob die Hände zum Gebet, danach setze er sich wieder hin und flocht eine Matte aus Palmblättern, dann erhob er sich wieder und betete. Dann sprach der Mann zu ihm: »Wenn du so verfährst, wirst du heil werden.« Mit diesen Worten verschwand er. Antonius erkannte, dass der Herr sein Gebet erhört und ihm einen Engel zur Belehrung und Stärkung geschickt hatte. Er wurd3e von großer Freude erfasst und von neuem Mut erfüllt. Wie er so dem Beispiel des Engels folgte, fand er die Befreiung, die er gesucht hatte.

6.0 Der Meister

Es war einmal ein Meister, der zu einer Menschenmenge sprach, und seine Botschaft war so wunderbar, dass jeder von seinen Worten der Liebe berührt wurde. Unter den Zuhörern gab es einen Mann, der dem Meister aufmerksam gelauscht hatte. Dieser demutsvolle Mann hatte ein großes Herz. Er war so sehr von den Worten des Meisters berührt, dass er ihn zu sich nach Hause einlud.
Als der Meister zu Ende gesprochen hatte, bahnte sich der Mann einen Weg durch die Menge, sah dem Meister in die Augen und sagte: »Ich weiß, dass ihr viel zu tun habt und jeder Eure Aufmerksamkeit sucht. Ich weiß, dass ihr kaum Zeit habt, um meine Worte anzuhören. Doch ist mein Herz so offen und ich fühle eine so große Liebe für Euch, dass ich das Bedürfnis verspüre, Euch in mein Heim einzuladen. Ich möchte Euch das köstlichste Mahl zubereiten. Ich erwarte nicht, dass Ihr mein Angebot annehmt, doch ich musste es Euch einfach wissen lassen.«
Der Meister sah in die Augen des Mannes, und mit dem herrlichsten Lächeln sagte er: »Bereite alles vor. Ich werde kommen.« Dann ging der Meister von dannen.
Die Freude des Mannes über diese Worte war groß. Er konnte es kaum erwarten, den Meister zu bedienen und ihm seine Liebe zu zeigen. Dies würde der wichtigste Tag in seinem Leben sein: Der Meister würde zu ihm kommen. Er kaufte die besten Nahrungsmittel und den kostbarsten Wein und fand die schönsten Kleider, die er dem Meister als Geschenk darbieten wollte. Dann lief er nach Hause, um den Meister zu empfangen. Er putzte sein Haus von oben bis unten, bereitete das köstlichste Mahl zu und deckte wunderschön den Tisch. Sein Herz war voller Freude, weil der Meister bald da sein würde.
Als jemand an die Tür klopfte, öffnete er schnell, doch anstelle des Meisters fand er eine alte Frau. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Ich habe Hunger. Könnt ihr mir ein Stück Brot geben?«
Der Mann war ein wenig enttäuscht, da es nicht der Meister war, der an seine Tür geklopft hatte. Er sah die Frau an und sagte: »Bitte, kommt herein.« Er bot ihr den Platz an, den er für den Meister vorbereitet hatte, und gab ihr die für ihn zubereiteten Speisen. Doch war er ungeduldig und konnte es kaum erwarten, bis sie fertig gegessen hatte. Die alte Frau war von der Großzügigkeit dieses Mannes berührt. Sie dankte ihm und ging.
Der Mann war kaum damit fertig, noch einmal den Tisch für den Meister vorzubereiten, als wieder jemand an die Tür klopfte. Dieses Mal war es ein Fremder, der die Wüste durchquert hatte. Der Fremde sah dem Mann in die Augen und sagte: »Ich habe Durst. Könnt ihr mir etwas zu trinken geben?«
Der Mann war wieder ein wenig enttäuscht, da es sich bei dem Besucher nicht um den Meister handelte. Er lud den Fremden in sein Haus und ließ ihn an dem Tisch Platz nehmen, den er für den Meister gedeckt hatte. Er servierte den Wein, den er dem Meister hatte kredenzen wollen. Nachdem der Fremde gegangen war, bereitete der Mann noch einmal alles für den Meister vor.
Und wieder klopfte jemand an die Tür. Als der Mann öffnete, stand ein Kind davor. Das Kind schaute zu dem Mann empor und sagte: »Ich friere. Könnt Ihr mir eine Decke geben, damit ich meinen Körper vor der Kälte schützen kann?«
Der Mann war ein wenig enttäuscht, da es nicht der Meister war, der an seiner Türe stand, doch sah er in die Augen des Kindes und empfand Liebe in seinem Herzen. Schnell griff er die Kleidungsstücke, die er dem Meister hatte überreichen wollen, und streifte sie dem Kind über. Das Kind dankte ihm und ging.
Noch einmal bereitete der Mann alles für den Meister vor und wartete dann auf ihn, bis es sehr spät wurde. Als er merkte, dass der Meister nicht mehr kommen würde, war er enttäuscht, doch im nächsten Augenblick verzieh er dem Meister. Er sagte zu sich selbst: »Ich wusste, dass ich nicht erwarten konnte, dass der Meister in mein bescheidenes Heim kommt. Obwohl er gesagt hat, dass er kommen würde, muss ihn etwas Wichtigeres an einen anderen Ort geführt haben. Der Meister ist nicht gekommen, doch wenigstens hat er mir gesagt, dass er kommen würde, und das ist genug, um mein Herz zu erfreuen.«
Langsam räumte der Mann die Speisen fort, stellte den Wein beiseite und ging zu Bett. In jener Nacht träumte er, dass der Meister zu ihm nach Hause käme: Er war glücklich, ihn zu sehen, doch wusste er nicht, dass er träumte. »Meister, Ihr seid gekommen! Ihr habt Euer Wort gehalten.«
Der Meister erwiderte: »Ja, ich bin hier, doch ich war schon einmal hier. Ich hatte Hunger und du hast mein Bedürfnis nach Nahrung gestillt. Ich hatte Durst und du hast mir den Wein eingeschenkt. Ich fror und du hast mich gekleidet. Was immer du für andere tust, tust du für mich.«
Der Mann erwachte, und sein Herz war von einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllt, denn er verstand, was der Meister ihn gelehrt hatte. Der Meister liebte ihn so sehr, dass er ihm drei Menschen gesandt hatte, um ihm die wichtigste aller Lektionen zu erteilen: Der Meister lebt in jedem Menschen. Wenn Sie demjenigen Nahrung geben, der hungert; dem zu trinken geben, der durstig ist; und denjenigen mit warmer Kleidung versehen, der friert, dann geben Sie Ihre Liebe dem Meister.

7.0 Die Fischer

Das Schiff legte in einem kleinen Hafen an. Unter den Passagieren war ein Bischof. Während das Schiff im Hafen lag, unternahm er einen Spaziergang am Strand. Da begegnete er drei Fischern, die unter einer Palme saßen und ihre Netze flickten. Als sie den Bischof sahen, begrüßten sie ihn freundlich. »We Christians«, riefen sie stolz in gebrochenem Englisch. Und dann erzählten sie dem Bischof, dass die Inselbewohner vor langer Zeit von Missionaren zum christlichen Glauben bekehrt worden seien.
Der Bischof freute sich. Ob sie denn auch das Vaterunser beten könnten, fragte er die Fischer. Aber die hatten noch nie vom Vaterunser gehört. Der Bischof war schockiert. »Was sprecht ihr denn, wenn ihr zu Gott betet ?«, wollte er wissen, und die Fischer antworteten: »Wir sind drei und du bist drei – steh‘ uns bei!«
Das fand der Bischof schrecklich unfromm. Er setzte sich mit den Fischern in den Sand und versuchte, ihnen das Vaterunser beizubringen. Die Fischer kamen dabei ganz schön ins Schwitzen. »Vater unser der du bist im Himmel...« Sie konnten sich die vielen merkwürdigen Worte einfach nicht merken, so sehr sie sich auch bemühten. »Vater unser, der du bist im Himmel.. Vater unser... Vater unser...« Der Bischof war frustriert und schließlich gab er auf.
Die Fischer begleiteten ihn bis zu seinem Schiff und winkten ihm freundlich nach, als das Schiff ablegte und den Hafen verließ.
Jahre waren vergangen, als der Bischof wieder einmal mit einem Schiff unterwegs war. Plötzlich hörte er laute Rufe. Neugierig ging der Bischof an Deck. Da standen die anderen Passagiere, hielten ihre Hände über die Augen und schauten aufgeregt aufs Meer hinaus. Der Bischof folgte ihren Blicken. In der Ferne sah er eine Insel und dann entdeckte er drei Männer, die über das Wasser liefen und direkt auf ihn zukamen! Träumte er? War es ein Trugbild?
Dem Bischof hämmerte das Herz in der Brust. Seine Augen täuschten ihn nicht: Drei Männer liefen über Wellen des Meeres! Schwerelos. Mühelos. Sie winkten fröhlich, und als sie näher kamen, erkannte der Bischof sie: Das waren die drei Fischer, denen er vor Jahren versucht hatte, das Vaterunser beizubringen!
»Wir haben das Gebet vergessen!« rief einer der Fischer zu dem Bischof hinauf, der sich über die Reling beugte und zu ihnen hinunter schaute. »Wir haben es einfach vergessen, und Gott wird uns gewiss böse sein!« Und alle drei senkten zerknirscht ihre Köpfe. »Wir sind gekommen, weil wir dich fragen wollen, ob du es uns noch einmal vorsagen willst? Vielleicht können wir es ja diesmal behalten.«
Da schämte sich der Bischof und schüttelte den Kopf. »Macht euch keine Sorgen«, rief er. »Ihr braucht das Vaterunser nicht!«
Die Fischer freuten sich. Das Schiff fuhr weiter. Der Bischof winkte, und als er die Fischer aus den Augen verloren hatte, betete er zu Gott: »Herr, vergib mir meinen Hochmut und meine Blindheit!«

Die Auswahl der Geschichten erfolgte mit freundlicher Unterstützung von: Stana Adamovic, Julia Hejda, Dorothea Kraßnitzer, Paler Zsa Zsa Isabel, Christoph Ruppert, Monika Stekovits, Mario Tutic (3ckb, Oktober 2003)

Quellenhinweise: Text 1: siehe dort. Text 2 bis 5 sind Öser D. Bünker, Die Güte des Meister wiegt mehr als ein Berg, Weisheitsgeschichten, Herder Spektrum 1998, entnommen. Text 6 wurde gefunden in: Don Miguel Ruiz, Vollendung in Liebe - Von der Kunst, mit sich selbst und anderen glücklich zu werden, München 1999; Für Text 7 wurde das Institut für Kreativität und Meditation als Quelle genützt.