Islam - Im Namen Allahs
1.0 Glaube und praktischer Geist
Die Gläubigen kamen in Scharen, um die Worte des Propheten
zu hören. Ein Mann hörte besonders aufmerksam zu, betete
mit gläubiger Inbrunst und verabschiedete sich schlißlich
vom Propheten, als es Abend wurde. Aber kaum war er drußen,
kam er wieder zurückgerannt und schrie mit sich überschlagender
Stimme: »Oh, Herr! Heute morgen ritt ich auf meinem Kamel
zu dir, um dich, den Propheten Gottes, zu hören. Jetzt ist
das Kamel nicht mehr da. Weit und breit ist kein Kamel zu sehen.
Ich war dir gehorsam, achtete auf jedes Wort deiner Rede und vertraute
auf Gottes Allmacht. Jetzt, oh Herr, ist mein Kamel fort. Ist das
die göttliche Gerechtigkeit? Ist das die Belohnung meines Glaubens?
Ist das der Dank für meine Gebete?« Mohammed hört
sich diese verzweifelten Worte an und antwortete mit einem gütigen
Lächeln: »Glaube an Gott und binde dein Kamel fest.«
2.0 Das Hemd des glücklichen Menschen
Ein Kalif lag sterbenskrank in seinen seidenen Kissen. Die Hakinus,
die Ärzte seines Landes, standen um ihn herumund waren sich
einig, dass nur eines dem Kalifen Heilung und Rettung bringen kann:
das Hemd eines glücklichen Menschen, das dem Kalifen unter
den Kopf gelegt werden müsse. Boten schwärmten aus und
suchten in jeder Stadt und in jeder Hütte nach einem glücklichen
Menschen. Doch alle, die sie nach ihrem Glück fragten, hatten
nur Kummer und Sorgen. Endlich trafen die Boten, die ihre Hoffnung
schon aufgeben wollten, einen Hirten, der lachend und singend seine
Herde bewachte. Ob er glücklich sei? »Ich kann mir niemanden
vorstellen, der glücklicher ist als ich«, antwortete
der Hirte lachend. »Dann gib uns dein Hemd«, riefen
die Boten. Der Hirt aber sagte: »Ich habe keins«. Diese
dürftige Botschaft, dass der einzige glückliche Mensch,
den die Boten trafen, kein Hemd hatte, gab dem Kalifen Anlass nachzudenken.
Drei Tage und Nächte ließ er niemanden zu sich kommen.
Am vierten Tag schließlich ließ er die seidenen Kissen
und seine Edelsteine unter dem Volk verteilen, und wie die Legende
erzählt, war der Kalif von diesem Zeitpunkt an wieder gesund
und glücklich.
3.0 Mut zur Wahrheit
Als Mohammed auf der Flucht war und man überall nach ihm suchte,
kam Ali, sein Schwiegersohn auf den rettenden Einfall: Er versteckte
den Propheten in einem hohen Tragekorb, lud sich diese schwere Last
auf den Kopf und balancierte sie zwischen den Wachen des Stadttores
hindurch. »Was hast du in dem Korb?« fragte ih n streng
ein Zöllner. »Mohammed den Propheten«, antwortete
ihm Ali. Die Wachen, die diese Wahrheit für eine schlagfertige
Frechheit hielten, lachten und ließen Ali und den Propheten
im Korb passieren.
4.0 Die Schale des Derwischs
Es war ein König, der wollte einem herumziehenden Derwisch
einen Wunsch erfüllen. Der Derwisch willigte schließlich
ein und wünschte, dass ihm seine Schale mit Goldmünzen
gefüllt würde. Der König sagte: »Nichts leichter
als das.« Und er begann die Goldmünzen einzufüllen.
Doch die Tasse wurde nicht voll, je mehr Münzen hineingesteckt
wurden, desto leerer schien sie zu werden. Der König war schon
ganz entmutigt, und der Derwisch sagte zu ihm: »Eure Majestät,
wenn ihr dies kleine Schale nicht füllen könnt, müsst
ihr es nur sagen. Dann nehme ich meine Schale zurück und gehe.
Nur ist es schade, dass ihr dann Euer Wort nicht gehalten habt.«
Und der König ließ alles Gold bringen und große
Schätze, doch all sein Besitz konnte die Schale des Derwischs
nicht füllen. Schließlich gab der König auf und
fragte den Derwisch: »Sagt mir, was ist das Geheimnis dieser
Schale?« Und der Derwisch antwortete: »Diese Schale
ist das menschliche Herz, das niemals zufrieden ist, was man ihm
auch gibt, sei es Wohlstand, Wissen, Ruhm, Liebe. Was auch immer
man hineinsteckt, es wird nicht voll werden, denn es ist nicht dazu
bestimmt, gefüllt zu werden. Doch da der Mensch dieses Geheimnis
des Lebens nicht kennt, ist er ständig auf der Suche, ohne,
dass er jemals Erfüllung erlangt.«
5.0 Was wirst du mitnehmen können?
Als der Meister Schamseddin von Täbriz einmal in das Haus seines
Schülers Rumi kam, der ein angesehener Gelehrter und Theologe
war, arbeitete dieser gerade an einem Manuskript. Schamseddin nahm
sogleich das Manuskript und warf es fort: »Hast du nicht bereits
genug studiert und gelesen? Studiere jetzt das Leben anstelle von
Büchern.« Rumi schaute ihn verwundert an. Und Schamseddin
erklärte: »All diese Dinge, die so wichtig schienen,
welche Bedeutung haben sie an dem Tag, wo du sterben musst? Was
bedeuten Gelehrtsein, Ansehen und eine gute Stellung dann? Was wirst
du mitnehmen können? Wenn du diese Frage wirklich löst,
wird sie dich in die Ewigkeit führen. Die Probleme dieser Welt,
ob du sie nun klärst oder nicht, nehmen niemals ein Ende. Darum
frage dich aufrichtig, was du von Gott und vom Menschen wahrhaftig
verstanden hast.« Diese Worte trafen Rumi mitten ins Herz
und brachten ihn wirklich auf den Weg zu Gott.
6.0 Wo wohnt Gott?
Hazrat Bastami, ein großer Sufimeister Indiens, begab sich,
als er noch jung war, auf Pilgerreise nach Mekka. Unterwegs begegnete
er einem wandernden Derwisch, der ein Meister mit tiefer Verwirklichung
zu sein schien. Bastami suchte ein Gespräch mit ihm, und der
Derwisch fragte ihn: »Wohin gehst du?« »Ich mache
eine Pilgerfahrt nach Mekka.« »Warum?« »Weil
ich auf der Suche nach Gott bin.« »Warum suchst du Gott
in Mekka? Du wirst den heiligen Stein umkreisen, und was wirst du
erlangen? Ich will dir ein Geheimnis verraten. Gott wohnt nicht
in Mekka und hat seit seiner Erbauung auch nie dort gewohnt. Gott
hat das menschliche Herz, dein Herz, seitdem du geboren wurdest
nie verlassen. Darum geh nach Hause und meditiere.«
7.0 Schocktherapie
Ein Mann machte Meister Bahaudin seine Aufwartung und bat ihn: »Bitte
helft mir in der Bewältigung meiner Probleme und führt
mich auf den Weg der Wahrheit.« Bahaudin erwiderte barsch:
»Es ist das beste, wenn ihr alle religiösen Studien aufgebt
und sofort mein Haus verlasst.« Der Mann erbleichte und verließ
zutiefst betroffen das Haus. Ein Besucher, der bei dem Vorfall anwesend
war, hielt dem Meister vor: »War dies nicht eine allzu harte
Behandlung? Womit hat dieser ehrbare Mann solche Abweisung verdient?«
In diesem Augenblick verirrte sich ein Vogel ins Zimmer und flatterte
hin und her. Bahaudin sagte zu dem Gast: »Schau, hier haben
wir die Antwort auf deine Frage.« Dann saß er schweigend
da und wartete. Als der Vogel sich in der Nähe des offenen
Fensters niederließ, schlug er plötzlich die Hände
zusammen, und der Vogel flog geradewegs in die Freiheit hinaus.
Der Meister lächelte seinen Bekannten an: »Für den
Vogel war das Klatschen meiner Hände sicherlich ein großer
Schreck, nicht wahr? Aber hat dieser Schreck ihm nicht auf dem schnellsten
Weg in die Freiheit verholfen?«
8.0 Die Gegenwart des Meisters
Ein Man kam zu einem Meister und sagte: »Ich möchte gern
Euer Schüler werden.« Und der Meister antwortete: »Ja,
ich bin sehr glücklich darüber.« Dies überraschte
den Mann, denn er hatte gedacht, dass er aufgrund seiner vielen
Fehler bestimmt nicht angenommen würde. Darum sagte er: »Aber
ich frage mich, ob ihr wisst, wie viele Fehler ich habe.«
Der Meister lachte: »Ich kenne bereits deine Fehler, doch
ich nehme dich trotzdem als Schüler an«. »Aber
ich habe sehr schlimme Fehler. Ich spiele gern, und ich betrinke
mich öfter mal.« »Ah, das macht nichts.«
»Aber ich habe noch andere Fehler«, sagte der Mann.
Der Meister entgegnete: »Das stört mich nicht. Doch jetzt,
wo ich all deine Fehler akzeptiert habe, musst du eine Bedingung
von deinem Lehrer akzeptieren.« Da der Mann bereitwillig zustimmte,
fuhr der meister fort: »Du magst dich deinen Fehlern hingeben,
doch nicht in meiner Gegenwart. Nur soviel Respekt solltest du deinem
Lehrer gegenüber bewahren.« Dieser Vorschlag gefiel dem
Schüler sehr, und glücklich ging er nach Hause.
Als er jedoch das nächste Mal zum Spielen ging, sah er das
Gesicht seines Meisters vor sich, und er konnte nicht spielen. Und
wie er sich wieder einmal betrinken wollte, erging es ihm genauso,
und er ließ davon ab. Immer wenn er einen Fehler begehen wollte,
sah er das Gesicht des Meisters vor sich. Nach einer Weile kehrte
er zu seinem Meister zurück, und der fragte ihn lächelnd:
»Na, hast du irgendeinen Fehler begangen?« Er antwortete:
»Oh nein, es ging nicht! Immer wenn ich einen meiner üblichen
Fehler begehen will, verfolgt mich mein Meister.«
9.0 Nasreddin lässt sich heimtragen
An einem hellen Sommertag war Nasreddin nach einem Spaziergang auf
eine Wiese gekommen, die ihm so schön erschien, wie er noch
keine gesehen hatte. Wohin sein Auge sah, erblickte er leuchtende
Blumen. Darüber schaukelten bunte Schmetterlinge und summte
des Heer der fleißigen Bienen.
»Hier ist gut rasten!« dachte der Hodscha und ließ
sich im Schatten eines Strauches ins Gras nieder. Behaglich legte
er sich zurück, schloss die Augen und begann sanft einzuschlummern.
Er mochte schon eine gute Weile geschlafen haben, als sich seinem
Platz zwei Männer näherten. Es waren Bauern, die in Nasreddins
Nachbardorf daheim waren. Sie klagten laut über die Hitze,
die ihre Ernte in Gefahr brachte.
Der Hodscha war wohl bei dem Klang ihrer Stimmen wach geworden,
da er aber so bequem lag, beschloss er, sich nicht stören zu
lassen, und tat weiter so, als ob er schliefe.
»Sieh nur, Ali!« unter brach einer der Männer das
Gespräch. »Dort liegt ein Mann in deiner Wiese!«
»Wahrhaftig!« rief der zweite zornig. »Er schläft!
– Wir wollen ihn sogleich aufwecken und aus der Wiese jagen,
ehe er das schöne Gras verdirbt!«
Sie traten an den Schläfer heran und rüttelten ihn an
der Schulter. Der aber machte keine Mine, zu erwachen. Da sahen
die Männer einander erschreckt in die Augen.
»Er ist tot!« flüsterte der eine.
»Aber - das ist doch Nasreddin!« rief plötzlich
der andere, nachdem er genauer hingesehen hatte. Und dann berieten
sie leise, was sie nun weiter zu tun hätten.
Der Hodscha aber blieb noch immer steif und unbeweglich. Er beschloss
abzuwarten, was die beiden unternehmen würden. »Hier
kann er nicht bleiben«, sagte der Mann, der sich Ali nannte,
»obgleich ich ihm das stille Plätzchen auf meiner Wiese
von Herzen gönnte. – Komm, Jussuf, wir wollen ihn in
sein Haus trage!«
Sie zogen ihre Messer, schnitten Äste und Laubwerk von den
nächsten Bäumen und verflochten sie geschickt mit Stricken
zu einer Tragbahre. Alsdann hoben sie den Schlafenden vorsichtig
darauf.
Der Hodscha ließ es still geschehen und freute sich, dass
die Männer ein so gutes und hilfreiches Herz hatten.
Nun fassten die beiden die Bahre an ihren Griffen und trugen sie
ernst und schweigsam die Straße dahin.
Nachdem sie eine Weile so gegangen waren, brach endlich Ali das
Schweigen. »Es ist ein weiter Weg nach Akschehir!« sagte
er. »Wir werden Nasreddins Haus kaum vor dem Abend erreichen!«
»Da hast du recht«, nickte Jussuf. »Aber wir wollen
die Straße verlassen und den Fluss überschreiten. Ich
weiß eine Stelle, an der das Wasser kaum an das Knie reicht.
Dort könne wir durchwaten und uns damit einen weiten Umweg
ersparen.«
Ali war mit dem Vorschlag seines Gefährten einverstanden. So
bogen sie von der Straße ab und schritten an das Ufer des
Flusses. Schon schickte sich Jussuf an, in das Wasser zu steigen,
als Nasreddin auf der Bahre sich plötzlich aufrichtete.
»Haltet ein, ihr Unvorsichtigen!« rief er warnend. »Die
Furt, an der ihr den Fluss gefahrlos überschreiten könnt,
befindet sich doch fünfzig Schritte weiter stromaufwärts!
Wenn ihr hier ins Wasser steigt, kann es unser aller Tod sein!«
Auf diesen Anruf erschraken die Männer so sehr, dass sie die
Bahre mit dem Hodscha zur Erde fallen ließen. Dann aber schrien
sie wild auf ihn ein, dass er sie mit seinem Tode zum besten gehalten
habe.
Der Hodscha ließ sie schelten und toben und hörte ihnen
lächelnd zu. »Warum seid ihr gegen mich so aufgebracht?«
sagte er endlich, nachdem ihnen der Atem ausgegangen war. »Wäre
euch am Ende der tote Nasreddin lieber als der lebende...? Ach,
wenn ihr den lebenden Menschen nur halb so viel Güte erweisen
wolltet, als ihr den Verstorbenen schenkt - die Welt wäre ein
Paradies!«
Da neigten die Männer beschämt ihr Haupt und baten den
Hodscha, wieder auf der Bahre Platz zu nehmen. Sie seine bereit,
ihn auch lebend nach Hause zu tragen.
10.0 Als das Wasser ausgetauscht wurde
Einst wandte sich Khidr, der Lehrer des Mose, mit einer bestimmten
Warnung an die Menschheit. An einem bestimmten Tag, so sagte er,
werde alles Wasser der Welt, das nicht auf eine bestimmte Weise
gesammelt wurde, verschwinden. Es werde dann jedoch durch ein anderes
Wasser ersetzt, das den Menschen verrückt macht.
Nur ein einziger Mann erkannte die Bedeutung dieses Rats und ging
daran, ihn zu befolgen. Er sammelte Wasser, lagerte es an einem
sicheren Ort und wartete darauf, dass das Wasser sich verändere.
Zur angekündigten Frist hörten die Flüsse auf zu
fließen und die Brunnen trockneten aus. Als der Mann sah,
wie sich dies alles ereignete, ging er zu der geheimen Stätte
und trank von dem Wasser, das er gerettet hatte.
Von der sicheren Zuflucht aus bemerkte er, dass die Wasserfälle
wieder zu strömen begannen, und er stieg zu den anderen Menschenkindern
hinab. Der Mann stellte fest, dass sie völlig anders dachten
und sprachen als früher. Sie erinnerten sich weder an das,
was sich zugetragen hatte noch daran, dass sie gewarnt worden waren.
Als er versuchte, mit ihnen zu sprechen, musste er feststellen,
dass sie ihn für verrückt hielten. Auch zeigten sie sich
ihm gegenüber feindselig oder mitleidig, oder verstanden ihn
nicht.
Anfangs trank er nicht von dem neuen Wasser, sondern kehrte jeden
Tag zu seinem Versteck zurück, um sich zu versorgen. Indessen
entschloss er sich am Ende doch, von dem neuen Wasser zu trinken,
weil er die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte, dieses Leben,
in dem er sich anders benahm und so anders dachte als alle anderen.
Er trank das neue Wasser und wurde genauso wie die anderen Menschen.
Da vergaß er schließlich auch völlig den eigenen
geheimen Wasservorrat, und seine Mitmenschen betrachteten ihn bald
als einen, der verrückt gewesen war, aber auf wunderbare Weise
seine geistige Gesundheit wieder erlangt hatte.
11.0 Die Geschichte vom Feuer
Es war einmal ein Mann, der tief über das Wirken und die Wirkungen
der Natur nachdachte, und dank seines Nachdenkens und der Nutzanwendung
entdeckte er, wie man Feuer machen kann.
Dieser Mann hieß Nour. Er entschloss sich, von einem Volk
zum anderen zu wandern und den Leuten seine Entdeckung zu bringen.
Nour überbrachte vielen Völkern das Geheimnis. Einige
machten Gebrauch von dem Wissen. Andere scheuchten ihn fort, noch
bevor sie überhaupt verstehen konnten, wie wertvoll diese Entdeckung
für sie sein könnte. Sie meinten, der Mann sei gefährlich.
Schließlich kam er zu einem Volk, das in derartige Panik geriet,
als er das Feuer vorführte, dass die Menschen ihn ergriffen
und töteten, überzeugt er sei ein Dämon.
Jahrhunderte vergingen. Bei dem ersten Volksstamm, der das Feuermachen
gelernt hatte, blieb das Geheimnis den Priestern vorbehalten. Sie
standen in Reichtum und Macht, während das Volk ein hartes
Leben führte.
Der zweite Stamm vergaß die Kunst und betete statt dessen
die Gerätschaften an. Der dritte betete zu einem Bild des Nour,
weil er es war, der sie unterwiesen hatte. Der vierte bewahrte die
Geschichte vom Feuermachen in seinen Legenden: Einige glaubten daran,
andere nicht. Das fünfte Volk machte sich das Feuer tatsächlich
zunutze und war dadurch in der Lage, sich zu wärmen, Speisen
zu kochen und alle möglichen nützlichen Dinge herzustellen.
Viele, viele Jahre später reiste ein weiser Mann mit einer
kleinen Schar von Schülern durch die Länder dieser Volksstämme.
Die Schüler waren überrascht von der Vielfalt der Rituale,
die sie vorfanden; und sie sagten übereinstimmend zu ihrem
Lehrer: »Aber all diese Sitten stehen im Grunde genommen mit
nichts anderem als dem Feuermachen in Zusammenhang. Wir sollten
die Leute aufklären.«
Der Lehrer antwortete: »Nun gut! Reisen wir noch einmal dorthin.
Am Ende werden diejenigen, die es überleben, die wahre Aufgabe
kennen und wissen, wie man es anpackt.«
Als sie zu dem ersten Volksstamm kamen, wurde die kleine Schar gastfreundlich
empfangen. Die Priester luden die Reisenden ein, an der religiösen
Zeremonie des Feuermachens teilzunehmen. Als das Volk dann durch
das Ereignis, dem es beiwohnte, in einen Zustand der Erregung versetzt
war, sagte der Meister zu seinen Schülern: »Möchte
einer von euch etwas dazu sagen?«
Der erste sagte: »Um der Wahrheit willen fühle ich mich
gedrängt, die Leute aufzuklären.«
»Wenn du das unbedingt tun willst, so tue es«, sagte
der Meister, » - aber auf eigenen Gefahr!«
Da trat der Schüler vor den Häuptling und die Priester
und sagte: »Auch ich kann das Wunder vollbringen, von dem
ihr euch einbildet, es sei irgendeine Manifestation der Gottheit.
Wenn ich es euch vorführe, werdet ihr dann einsehen, dass ihr
seit vielen Jahren in einem Irrtum lebt?«
Aber die Priester riefen: »Packt ihn!« - der Mann wurde
ergriffen, und man hat ihn nie wieder gesehen.
Die Reisenden wanderten ins nächste Land, zu dem zweiten Stamm,
jenen Leuten, die die Gerätschaften des Feuermachens anbeteten.
Wieder wollte einer der Schüler aus freien Stücken das
Volk zur Vernunft bringen.
Mit dem Einverständnis des Meisters sagte er: »Erlaubt
mir, dass ich zu euch als zu vernünftigen Menschen spreche.
Ihr betet Mittel an, mit denen man etwas tun kann, nicht aber die
Sache selber. Dadurch schiebt ihr das Erscheinen dieser so nützlichen
Sache hinaus. Ich aber kenne die Wahrheit, die eurer Zeremonie zugrunde
liegt.«
In diesem Volk gab es nun vernünftigere Leute. Aber sie sagten
dem Schüler: »Als Reisender und Fremdling bist du in
unserer Mitte willkommen. Jedoch als Fremder, der unsere Geschichte
und unsere Bräuche nicht kennt, kannst du nicht verstehen,
was wir tun. Du irrst. Vielleicht versuchst du sogar, uns unsere
Religion wegzunehmen oder sie zu ändern. Wir wollen dich deshalb
nicht anhören.«
Die Wanderer setzten ihre Reise fort.
Dann kamen sie in das Land des dritten Stammes, und dort sahen sie,
dass vor jeder Behausung ein Götzenbild stand, das den Nour
darstellte, den ursprünglichen Feuerbringer. Der dritte Schüler
sprach den Häuptling an und sagte: »Dieses Götzenbild
stellt einen Menschen dar. Er verkörpert eine bestimmte Fähigkeit,
die man nutzbringend anwenden kann.«
»Mag sein«, antwortete der Nour-Anbeter, »aber
nur wenige können in das wahre Geheimnis eindringen.«
»Ich spreche wegen der wenigen, die verstehen werden, nicht
aber für die, die sich weigern, bestimmten Tatsachen ins Auge
zu sehen«, sagt der dritte Schüler.
»Eine abscheuliche Ketzerei«, murrte da der Priester,
»noch dazu von einem Manne, der nicht einmal unsere Sprache
richtig sprechen kann, geschweige denn ein geweihter Priester unseres
Glaubens ist.« So konnte auch dieser Schüler nichts für
den Fortschritt tun.
Die kleine Schar setzte ihre Reise fort und kam in das Land des
vierten Stammes. Nun trat ein vierter Schüler vor das versammelte
Volk: »Die Legende vom Feuermachen ist wahr, und ich weiß,
wie man es machen kann«, sagte er. Da brach Verwirrung aus,
und das Volk teilte sich in mehrere Parteien. Einige sagten: »Vielleicht
ist‘s wahr, und wenn es wirklich stimmt, möchten wir
herausfinden, wie man Feuer macht.« Als der Meister und seine
Schüler nun eingehender mit diesen Leuten sprachen, stellte
sich jedoch heraus, dass die meisten Angst hatten, das Feuer auch
zu ihrem persönlichen Nutzen zu gebrauchen; sie verstanden
nicht, dass es dem menschlichen Fortschritt diente. So tief waren
bei den meisten die verzerrten Legenden ins Gemüt eingedrungen,
dass oft gerade jene Menschen, die meinten, sich tatsächlich
der Wahrheit annähern zu können, ein gestörtes Gleichgewicht
hatten. Sie hätten daher selbst dann kein Feuer entzünden
können, wenn man es sie gelehrt hätte.
Dann gab es noch eine andere Partei, die sagte: »Selbstverständlich
sind die Legenden nicht wahr. Dieser Mann will uns zum Narren halten,
um sich bei uns einzunisten.«
Und wieder eine andere Partei sagte: »Wir wollen die Legenden
genauso wie sie sind, denn sie halten unsere Gemeinschaft zusammen.
Wenn wir sie aufgeben, und sich dann herausstellt, dass diese neue
Auffassung nichts taugt, was würde dann aus unserem Volke?«
Und es gab noch mehr Meinungen dieser oder anderer Art.
So reiste die kleine Schar denn weiter und erreichte das Gebiet
des fünften Volkes, bei dem das Feuermachen zum gewöhnlichen
Alltag gehörte und wo sie sich anderen Vorurteilen gegenübergestellt
sahen.
Der Meister sagte zu seinen Schülern: »Ihr müsst
lernen, wie man lehrt, denn der Mensch möchte gar nicht belehrt
werden. Zuerst müsst ihr die Menschen lehren zu lernen. Und
zwar müsst ihr sie lehren, dass es überhaupt etwas gibt,
was man lernen sollte. Sie bilden sich ein, dass sie zum Lernen
bereit sind. Aber sie wollen das lernen, von dem sie meinen, dass
es gelernt werden müsse, nicht aber das, was sie tatsächlich
als erstes lernen müssen. Wenn ihr, meine Schüler, all
dies gelernt habt, dann könnt ihr Weg und Weise ersinnen, um
zu lehren. Wissen, ohne die besondere Fähigkeit zu lehren,
ist nicht dasselbe wie Wissen und diese Fähigkeit.«
Quellenhinweise: Die Texte 1 bis 3 wurden entnommen: Nossrat Peseschkian,
Der Kaufmann und der Papagei, Orientalische Geschichten in der Positiven
Psychotherapie, Fischer TB, 24. Aufl. 2000; Text 4 bis 8 stammen aus: Öser D.
Bünker, Die Güte des Meisters wiegt mehr als ein Berg,
Weisheitsgeschichten, Herder - Spektrum, 1998; Text 9 ist nachzulesen bei:
Walter Kukula, Nasreddin der Schelm, Wien 1959; und zu den Texten 10
und 11 vgl.: Idries Shah, Das Geheimnis der Derwische, Freiburg, 1982.
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