Judentum - Erzählungen der Chassiden
1.0 Das Versteckspiel
Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem
anderen Knaben Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass
ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er
aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte
Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber
musste er weinen, kam weinend in die Stube seines Großvaters
gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen.
Da flossen Rabbi Baruch die Augen über und er sagte: »So
spricht Gott auch: ›Ich verberge mich, aber keiner will mich
suchen.‹ «
2.0 Das Gebot der Liebe
Ein Schüler fragte den Rabbi Schmelke: »Es ist uns geboten:
Liebe deinen Genossen dir gleich. Wie kann ich das erfüllen,
wenn mein Genosse mir Böses tut?«
Der Rabbi antwortete: »Du musst das Wort recht verstehen:
Liebe deinen Genossen als etwas, was du selber bist. Denn alle Seelen
sind eine; jede ist ja ein Funken aus der Urseele, und sie ist ganz
in ihnen allen, wie deine Seele in allen Gliedern deines Leibes.
Es mag sich einmal ereignen, dass deine Hand sich versieht und dich
selber schlägt; wirst du da einen Stecken nehmen und deine
Hand züchtigen, weil sie keine Einsicht hatte, und deinen Schmerz
noch mehren? So ist es, wenn dein Genosse, der Eine Seele mit dir
ist, dir aus mangelnder Einsicht Böses erweist; vergiltst du
ihm, tust du dir selber weh.«
Der Schüler fragte weiter: »Wenn ich aber einen Menschen
sehe, der vor Gott böse ist, wie kann ich den lieben?«
»Weißt du nicht«, sagte Rabbi Schmelke, »dass
die Urseele aus Gottes Wesen kam und jede Menschenseele ein Teil
Gottes ist? Und wirst du dich seiner nicht erbarmen, wenn du siehst,
wie einer seiner heiligen Funken sich verfangen hat und am Ersticken
ist?«
3.0 Alle Freuden
Rabbis Pinchas sprach: »alle Freuden stammen aus dem Paradies,
auch der Scherz, wenn er in wahrer Freude gesprochen wird.«
4.0 Nähe
Ein Schüler fragte den Baalschem: »Wie geht das zu,
dass einer, der an Gott hängt und sich ihm nah weiß,
zuweilen eine Unterbrechung und Entfernung erfährt?«
Der Baalschem erklärte: »Wenn ein Vater seinen kleinen
Sohn will gehen lernen, stellt er ihn erst vor sich hin und hält
die eignen Hände zu beiden Seiten ihm nah, dass er nicht falle,
und so geht der Knabe zwischen den Vaterhänden auf den Vater
zu. Sowie er aber zum Vater herankommt, rückt der um ein weniges
ab und hält die Hände weiter auseinander, und so fort,
dass das Kind gehen lerne.«
5.0 Triebe brechen
Ein junger Mann gab dem Riziner einen Bittzettel, darauf stand,
Gott möge ihm beistehen, damit es ihm gelinge, die bösen
Triebe zu brechen. Der Rabbi sah ihn lachend an: »Triebe willst
du brechen? Rücken und Lenden wirst du brechen, und einen Trieb
wirst du nicht brechen. Aber bete, lerne, arbeite im Ernst, dann
wird das Böse an deinen Trieben von selber verschwinden.«
6.0 Gib und nimm
Die Losung des Lebens ist: »Gib und nimm.« Jeder Mensch
soll ein Spender und Empfänger sein. Wer nicht beides in einem
ist, der ist ein unfruchtbarer Baum.
7.0 Die große Schuld
Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden,
die er begeht - die Versuchung ist mächtig und seine Kraft
gering! Die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem
Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.
8.0 Wo wohnt Gott?
»Wo wohnt Gott?« Mit dieser Frage überraschte
der Kosker einige gelehrte Männer, die bei ihm zu Gast waren.
Sie lachten über ihn: »Wie redet ihr! Ist doch die Welt
seiner Herrlichkeit voll!« Er aber beantwortete die eigene
Frage: »Gott wohnt, wo man ihn einläßt.«
9.0 Der Schatz
Vor sehr langer Zeit lebte in Krakau ein frommer Gelehrter, Rabbi
Jizchak, Sohn des Rabbi Jakob. Er lebte in großer Not und
wusste keinen Ausweg. »Nur ein Wunder kann mir helfen«,
sagte er sich. Eines Tages hörte er im Traum eine geheimnisvolle
Stimme: »Jizchak, Jizchak! Ein Schatz von unermesslichem Wert
ist dir bestimmt. Geh in die Stadt der böhmischen Könige,
nach Prag, und suche dort unter der steinernen Brücke, die
sich über den Fluss Moldau wölbt.« Jizchak war nicht
abergläubisch. Er wusste aus dem Talmud, dass der Mensch davon
zu träumen pflegt, worüber er den ganzen Tag lang nachgedacht
hat. Aber der Traum wiederholte sich in der folgenden und der übernächsten
Nacht. Da erkannte Rabbi Jizchak, dass der Traum kein einfacher
Traum war und dass die Stimme, die er gehört hatte, die Eingebung
des Traumengels gewesen sein musste. Jizchak, Sohn Jakobs, nahm
den Stock und begab sich auf den Weg.
Der Weg von Krakau nach Prag war in damaliger Zeit arg und gefährlich.
Noch schlimmer war es, dass man seine Angehörigen in Hunger
und Not zurückließ und - einem Traum nachging.
Als er nach mühseliger, langer Wanderschaft von einer Anhöhe
aus die herrliche Burg sah und die Stadt, die sich auf beiden Ufern
des Flusses ausdehnte, und als er die mächtige, ganz aus Steinen
erbaute Brücke erblickte, da pochte Jizchaks Herz vor Freude.
Aber die Brücke bewachten Söldner. Jizchak näherte
sich der Brücke, ging dann wieder weg, kehrte abermals zurück,
ließ den Blick unter der Brücke wandern und suchte sich
die Stelle aus, wo er in einem unbeobachteten Augenblick seinen
Schatz werde ausfindig machen können.
Man wurde auf ihn aufmerksam. Die Wache fasste ihn und führte
ihn vor den Hauptmann. Rabbi Jizchak, Jakobs Sohn, stellte nichts
in Abrede und erzählte dem Hauptmann der Wache das Geheimnis
seines Traumes. Seinen Namen verlangte man nicht zu wissen, auch
nicht woher er komme.
Als der Hauptmann die Worte Jizchaks hörte, lachte er laut
auf. »Dass es unter euch Juden solche Narren gibt, die wie
du einem Traum nachirren, habe ich wahrhaft nicht gewusst. Wenn
ich Träumen glauben wollte, müsste ich bis nach Krakau
wandern. Da träumte mir jüngst, es liege dort ein unermesslicher
Schatz unter dem Herd in der Wohnstube eines Juden verborgen. Sogar
der Name des Juden wurde mir im Traum mitgeteilt. Ich erinnere mich
ganz genau daran. Es soll ein Jizchak, Sohn Jakobs, sein. Das wäre
mir so recht, mich bis nach Krakau zu bemühen und am Herd eines
verfluchten Juden nach einem Schatz zu graben! Träume sind
Lug und Trug. Wer ihnen glaubt, ist ein altes Weib.«
Rabbis Jizchak dankte Gott, als er von der Wache entlassen wurde.
Die Sache ist mit einem tüchtigen Lachen abgelaufen. Unverzüglich
kehrte er nach Hause zurück. Den Schatz fand er bei seinem
Herd.
Später gründete er in Krakau ein Bethaus, das bis heute
besteht und seinen Namen trägt.
Rabbis Simcha Bunam, der diese Geschichte jedem neuen Schüler
erzählte, pflegte noch hinzuzufügen: »Da siehst
du, mein Junge, dass es etwas sehr Wertvolles gibt, dem du unablässig
wie im Traum nachgehst und das du wahrscheinlich zeitlebens in der
ganzen Welt nicht finden wirst. Vielleicht nicht einmal bei mir.
Und doch gibt es einen Ort, wo du es finden könntest.«
Ausgewählt von Olivia Bucher, Helga Preißl, Gerald Reif,
Mario Riemel und Martina Schneeberger (8skb, Oktober 2003)
Quellenhinweise: Die Texte 1 bis 8 stammen aus: Martin Buber, Die
Erzählungen der Chassidim, Zürich 1990; Text 9 ist entnommen
aus: Georg M. Langer, Der Rabbi, über den der Himmel lachte,
Frankfurt 1986.
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