› Der vierte Weise - Die Geschichte einer Suche

1.0 Prolog

Als nun Jesus geboren war zu Bethlehem im Lande Juda in den Tagen des Königs Herodes, da kamen Weise aus dem Morgenlande nach Jerusalem und sprachen: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Aufgehen gesehen und sind gekommen, ihm zu huldigen.« Als der König Herodes das hörte, erschrak er und ganz Jerusalem mit ihm, und er ließ alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes zusammenkommen und forschte sie aus, wo der Messias geboren werden solle. Sie sagten ihm: In Bethlehem im Lande Juda; denn so steht geschrieben im Propheten »Und du, Bethlehem im Lande Judas, bist keineswegs die kleinste unter den Fürstenstädten Judas; denn aus dir wird der Herrscher hervorgehen, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und horchte sie aus, wann ihnen der Stern erschienen sei. Dann schickte er sie nach Bethlehem und sagte: »Ziehet hin und forschet genau nach dem Kinde; und sobald ihr es gefunden habt, lasst es mich wissen, damit auch ich komme und ihm huldige.« Nachdem sie den König angehört hatten, brachen sie auf. Und siehe, der Stern, den sie im Aufgehen gesehen hatten, zog vor ihnen her, bis er ankam und stehen blieb über dem Ort, wo das Kind war. Als sie aber den Stern erblickten, hatte sie eine überaus große Freude. Sie traten in das Haus ein und schauten das Kind mit seiner Mutter Maria, fielen nieder und huldigten ihm. Dann öffneten sie ihre Schätze und brachten ihm Geschenke dar: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und da sie im Traum die Weisung empfingen, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem andern Weg heim in ihr Land. (nach Matthäus 2, 1-12)

Hast du je die Geschichte vom vierten Weisen gehört, der gleichfalls den Stern gesehen hatte? Von der Wanderschaft dieses vierten Pilgers will ich erzählen, wie mir die Geschichte nach und nach zugeflogen ist, im Reich der Träume:

1.1 Der vierte Weise aus dem Morgenland

Zu der Zeit als Kaiser Augustus Herr über viele Könige war und in Jerusalem Herodes regierte, lebte in der Stadt Ekbatana in den Bergen Persiens ein gewisser Artaban, ein Meder. Vom Dach seines Hauses schweifte der Blick über die ragenden Zinnen der sieben Mauern, die die königliche Schatzkammer umgaben, bis zu dem Hügel, auf dem der Sommerpalast der Partherherrscher gleich einem Kronjuwel schimmerte. Rings um Artabans Wohnhaus breitete sich ein schöner Garten, ein Labyrinth aus Blumen und Obstbäumen, gewässert von Bächen, die von den Hängen des Orontes herabplätscherten, und durchflötet von Vögeln ohne Zahl. Doch im weichduftigen Dunkel der Nacht im späten September waren alle Laute verstummt bis auf das Plätschern des Wassers. Hoch über den Bäumen schien ein schwacher Lichtglanz durch die gardinenverhängten Fensterbögen des Obergemachs, wo der Herr des Hauses im Begriff war, mit seinen Freunden Rat zu halten. Er war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann von etwa vierzig Jahren. Eng standen die feurigen Augen unter den Brauen, und um die feinen schmalen Lippen hatten sich strenge Linien eingegraben: Die Stirn eines Träumers und der Mund eines Kriegers, eines Mannes von feinem Empfinden, aber unbeugsamen Willen. Sein Gewand das er über der seidenen Tunika trug, war von reiner weißer Wolle, und eine weiße, spitze Mütze saß auf seinem wallenden Schwarzhaar. Es war das Kleid der alten Priestergilde, der Magier, auch Feueranbeter genannt.

»Willkommen« sagte er mit seiner gedämpften, angenehmen Stimme als einer nach dem anderen den Raum betrat. »Ihr seid alle willkommen und die Freude eurer Gegenwart erhellt mein Haus.« Es waren neun Männer von unterschiedlichem Alter, doch gleicher Pracht der Kleidung. Der Kragen aus purem Gold kennzeichnete sie als Edelleute des Parthervolkes, und auf der Brust trugen sie den goldenen Flügelkreis, das Abzeichen der Jünger Zoroasters. Sie nahmen um einen kleinen schwarzen Altar am Ende des Raumes Platz, auf dem eine winzige Flamme brannte. Artaban, der neben dem Altar stand und einen Wedel aus dünnen Tamariskenzweigen über dem Feuer schwenkte, nährte die Flamme mit dürrem Föhrenreisig und wohlriechenden Ölen. Dann stimmte er den alten Gesang an, und die Stimmen seiner Gefährten fielen ein in den schönen Hymnus an Ahura Masda: »Wir verehren den göttlichen Geist, den Träger von Weisheit und Güte ...« Das Feuer züngelte auf unter dem Gesang und flackerte, als nehme die Flamme selbst teil an der Musik, bis es das ganze Gemach erleuchtete. Dessen Boden war ausgelegt mit weißgeäderten blauen Fliesen. Gedrehte Silberpilaster ragten vor den blauen Wänden auf; die Deckenwölbung war ein Mosaik von Saphiren, klar wie das Firmament, übersät mit silbernen Sternen. Am östlichen Ende hinter dem Altar befanden sich zwei dunkelrote Säulen aus Porphyr, und der Durchgang zwischen ihnen, der auf die Dachterrasse hinausführte, war bedeckt mit einem schweren Vorhang von der Farbe reifer Granatäpfel, bestickt mit zahllosen goldenen, vom Boden aufschießenden Strahlen. So bot der Raum das Bild einer stillen Sternennacht, ganz Silber und Azur, im Osten angehaucht von rosiger Morgenverheißung. Er war, wie es sein soll, Ausdruck von Charakter und Geist des Hausherrn.

Der Gesang ging zu Ende, Artaban lud seine Gefährten ein, sich auf den Diwan zu setzten, und sagte: »Als getreue Schüler Zoroasters seid ihr heute Abend meinem Ruf gefolgt, um von neuem dem Gott der Reinheit eure Anbetung und euer Bekenntnis darzubringen, gleichwie das Feuer auf diesem Altar neu entzündet worden ist. Nicht das Feuer beten wir an, sondern ihn, dessen erkorenes Bild es ist als das lauterste aller geschaffenen Dinge. Es spricht zu uns von einem, der Licht und Wahrheit ist. Ist es nicht so, mein Vater?« »Das ist wohl gesprochen, mein Sohn«, antwortete der ehrwürdige Abgarus. »Die Erleuchteten sind niemals Götzendiener, sie heben den Schleier der Form und treten ein ins Heiligtum der Wirklichkeit.« »Hört mich denn, mein Vater und meine Freunde«, sagte Artaban. »zusammen haben wir nach den Geheimnissen der Natur geforscht und die heilenden Kräfte der Pflanzen, des Wassers und des Feuers studiert. Wir haben auch die Bücher der Prophezeiung gelesen, in denen die Zukunft verhüllt geweissagt wird. Doch der Gipfel aller Gelehrsamkeit ist die Kenntnis der Sterne. Ihrem Lauf nachzuspüren, heißt die Fäden des Lebensmysteriums von Anfang bis Ende zu entwirren. Aber ist unsere Kenntnis nicht noch unvollständig? Gibt es nicht außerhalb unseres Gesichtskreises noch viele Sterne - Lichter, die nur die Bewohner des fernen Südlandes kennen unter den Gewürzbäumen von Punt und bei den Goldminen von Ophir?« Es erhob sich ein Murmeln der Zustimmung. »Die Sterne«, sagte Tigranes, »sind die Gedanken des Ewigen. Sie sind ohne Zahl. Die Weisheit der Magier ist die größte Weisheit auf Erden, weil sie um ihre Unwissenheit weiß. Und das ist das Geheimnis der Macht. Wir haben Männer angestellt, die allezeit nach einem neuen Sonnenaufgang Ausschau halten. Doch wir selbst wissen, dass die Dunkelheit dem Licht ebenbürtig ist und dass der Kampf zwischen ihnen niemals enden wird.«

»Das ist mir nicht genug«, sagte Artaban. »Denn wenn das Warten endlos unerfüllt bleiben muss, dann wäre es keine Weisheit, Ausschau zu halten und zu hoffen. Zur bestimmten Zeit wird er gewiss dämmern, der neue Sonnenaufgang. Sagen uns das nicht unsere Bücher, dass die Menschen sehen werden die Helligkeit eines großen Lichts?« »Das ist wahr«, sagte Abgarus. »Jeder treue Jünger Zoroasters kennt die Weissagung: ›An jenem Tage wird Sosiosch der Sieger auferstehen aus den Propheten. Um ihn wird scheinen ein gewaltiger Glanz; ewig, unzerstörbar und unsterblich wird er das Leben machen, und die Toten werden wieder erstehen.‹ »Mein Vater«, sagte Artaban, und sein Gesicht leuchtete, »ich habe diese Weissagung in meinem Herzen getragen. Glaube ohne große Hoffnung wäre wie ein Altar ohne lebendiges Feuer. Und jetzt bei dem Licht der Flamme habe ich andere Worte gelesen, die noch klarer davon sprechen.« Er zog aus seiner Tunika zwei beschriebene kleine Rollen aus feinem Leinen. »Lange ehe unsere Väter in das Land um Babylon kamen, lebten weise Männer in Chaldäa, von denen der erste der Magier das Geheimnis der Himmel lernte. Und von diesen war Bileam einer der mächtigsten. Höret die Worte seiner Weissagung:
›Es soll ein Stern aus Jakob aufgehen, und ein Szepter soll erwachsen aus Israel.‹ «
»Juda war ein Gefangener an den Wassern Babylons«, sagte Tigranes verächtlich, »und die Söhne Jakobs waren Vasallen unserer Könige. Die Stämme Israels sind über die Berge verstreut wie verlorene Schafe. Aus dem Rest, der unter Roms Joch in Judäa wohnt, wird weder Stern noch Szepter erwachsen.«
»Und doch«, erwiderte Artaban, »war es der Hebräer Daniel, der mächtige Erforscher von Träumen, der weise Belsazar, den unser großer König Kyros am meisten ehrte und liebte. Als sicherer Prophet und Leser der Gedanken Gottes erwies sich Daniel unserem Volk. Und Daniel schrieb: ›So wisse nun und merke: von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, dass Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen, und zweiundsechzig Wochen.‹ « »Aber, mein Sohn«, sprach Abgarus, »das sind mystische Zahlen. Wer kann ihre Bedeutung enträtseln?«
Artaban erwiderte: »Meine drei Gefährten unter den Magiern - Kaspar, Melchior, Balthasar - und ich haben die alten Tafeln Chaldäas durchforscht und die Zeit errechnet. Sie fällt auf dieses Jahr. Wir haben den Himmel studiert, und in diesem Frühling sahen wir im Zeichen der Fische, welches das Haus der Hebräer ist, zwei der größten Sterne sich einander nähern. Und dort sahen wir auch einen neuen Stern, der eine Nacht schien und dann verschwand. Jetzt begegnen sich die beiden großen Planeten abermals. Heute Nacht stehen sie in Konjunktion.

Meine drei Brüder beobachten im alten Tempel der Sieben Sphären zu Borsippa in Babylonien, und ich beobachte hier. Wenn der Stern wieder erscheint, werden wir in zehn Tagen zusammen nach Jerusalem aufbrechen, um den Verheißenen zu besuchen und anzubeten, der zum König von Israel geboren werden wird. Ich glaube, das Zeichen wird eintreten. Ich habe mich gerüstet für die Reise. Ich habe mein Haus und meinen Besitz veräußert und diese Juwelen gekauft, einen Saphir, einen Rubin, und eine Perle, um sie den König als Tribut zu bringen. Und ich bitte euch, mit mir auf die Wallfahrt zu gehen, damit wir gemeinsam den Fürsten finden.«
Aus dem innersten Bausch seines Gürtels zog er drei herrliche Kleinode - eins blau wie ein Stück des nächtlichen Himmels, eins röter als ein Strahl des Sonnenaufgangs, eins rein wie ein Schneegipfel im Zwielicht.

Doch seine Gefährten schauten befremdet und abweisend drein wie Menschen, die unglaublichen Reden zugehört haben oder dem Vorschlag zu einem unmöglichen Unterfangen. Endlich sprach Tigranes: »Artaban, dies ist ein eitler Traum. Das kommt von dem vielen Sterngucken und dem Hegen hochfliegender Gedanken. Aus dem zerbrochenen Geschlecht Israel wird kein König erstehen. Und der ewige Kampf von Licht und Dunkel wird niemals ein Ende finden. Wer danach sucht, hascht nach Schatten. Lebe wohl.« Und einer nach dem anderen sagten auch die übrigen, diese Suche sei nichts für sie, aber sie wünschten ihm Glück auf den Weg. Doch Abgarus, der Älteste, der noch zurückblieb, nachdem die anderen gegangen waren, sagte ernst: »Mein Sohn, mag sein, dass das Licht der Wahrheit in diesem Zeichen leuchtet, das am Himmel erschienen ist; mag auch sein, es ist nur ein Schatten des Lichts, wie Tigranes sagt. Aber besser, auch nur dem Schatten des Besten folgen als sich zufrieden geben mit dem Schlechtesten. Und wer wunderbare Dinge sehen will, der muss oft bereit sein, allein zu reisen. Ich bin zu alt für diese Fahrt, aber mein Herz wird auf der Reise dein Gefährte sein Tag und Nacht. Gehe in Frieden.«
So gingen sie einer nach dem anderen aus dem azurenen Gemach mit den silbernen Sternen, und Artaban blieb allein zurück. Lange Zeit beobachtete er die Flamme, die auf dem Altar flackerte und zusammensank. Dann hob er den schweren Vorhang auf und schritt zwischen den mattroten Porphyrsäulen hinaus auf die Dachterasse.
Das Frösteln, das die Erde durchschauert, ehe sie von ihrem Nachtschlaf erwacht, hatte schon begonnen, und von den erhabenen, schneegezeichneteten Schluchten des Orontes herab wehte der kühle Hauch, der den Tagesanbruch ankündigt. Vögel, halb erwacht huschten zwitschernd durch das raschelnde Laub, und von den Lauben herüber wehte in Wellen der Duft reifer Trauben. Über der östlichen Ebene lag weißer Nebel wie ein See. Doch wo die fernen Gipfel des Zagrosgebirge den westlichen Horizont durchzuckten, war der Himmel klar. Jupiter und Saturn rollten in eins, wie züngelnde Flammentropfen verschmelzen.
Während Artaban sie beobachtete, siehe, da entsprang aus der Dunkelheit unter ihnen ein blauer Funke, der sich purpurglänzend zu einem karminroten Ball rundete und dann durch Strahlen von Safran und Orange zu einem weißen Glutpunkt aufschloss. Winzig und unendlich fern, doch vollkommen, flimmerte er in dem gewaltigen Gewölbe, als hätten sich die drei Juwelen des Magiers vermischt und verwandelt zu einem lebenden Lichtherzen. Artaban beugte das Haupt. »Das ist das Zeichen«, sagte er. »Der König kommt und ich will ihm entgegengehen.«

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