Lifestyle - Fragen der Ethik und der
Lebensweise
1.0 Der Indianer und die Wölfe
Ein alter Indianer erzählte seinem Enkel von einer großen
Tragödie und wie sie ihn nach vielen Jahren immer noch beschäftigte.
»Was fühlst du, wenn du heute darüber sprichst?«
fragte der Enkel.
Der Alte antwortete: »Es ist als ob zwei Wölfe in meinem
Herzen kämpfen. Der eine Wolf ist rachsüchtig und gewalttätig.
Der andere ist großmütig und liebevoll.«
Der Enkel fragte: »Welcher Wolf wird den Kampf in deinem Herzen
gewinnen?«
»Der Wolf, den ich füttere!« sagte der Alte.
2.0 Vom Mut eine Probe zu wagen
Ein König stellte für einen wichtigen Posten den Hofstaat
auf die Probe. Kräftige und weise Männer umstanden ihn
in großer Menge. »Ihr weisen Männer«, sprach
der König, »ich habe ein Problem, und ich möchte
sehen, wer von euch in der Lage ist, dieses Problem zu lösen.«
Er führte die Anwesenden zu einem riesengroßen Türschloss,
so groß, wie es keiner je gesehen hatte. Der König erklärte:
»Hier seht ihr das größte und schwerste Schloss,
das es in meinem Reich je gab. Wer von euch ist in der Lage, das
Schloss zu öffnen?« Ein Teil der Höflinge schüttelte
nur verneinend den Kopf. Einige, die zu den Weisen zählten,
schauten sich das Schloss näher an, gaben aber zu, sie könnten
es nicht schaffen. Als die Weisen dies gesagt hatten, war sich auch
der Rest des Hofstaates einig, dieses Problem sei zu schwer, als
dass sie es lösen könnten. Nur ein Wesir ging an das Schloss
heran. Er untersuchte es mit Blicken und Fingern, versuchte, es
auf die verschiedensten Weisen zu bewegen und zog schließlich
mit einem Ruck daran. Und siehe, das Schloss öffnete sich.
Das Schloss war nur angelehnt gewesen, nicht ganz zugeschnappt,
und es bedurfte nichts weiter als des Mutes und der Bereitschaft,
dies zu begreifen und beherzt zu handeln. Der König sprach:
»Du wirst die Stelle am Hof erhalten, du verlässt dich
nicht nur auf das, was du siehst oder was du denn hörst, sondern
setzt selber deine eigenen Kräfte ein und wagst eine Probe.«
3.0 Die halbgelernte Lektion
Es war einmal ein Lehrer, der hatte die Aufgabe, den Söhnen
der Pandavas, einer fürstlichen Familie, eine besonders gute
Bildung angedeihen zu lassen. Der Lehrsatz der ersten Lektion hieß:
»Sprich stets die Wahrheit und sei niemals zornig!«
Eifrig lernten die Kinder den Satz, bis sie ihn auswendig konnten.
Als der Lehrer die Kinder in der nächsten Unterrichtsstunde
abfragte, erklärte einer der Pandava-Söhne, dass er den
Satz noch nicht beherrsche. Die nächste Lektion war bereits
an der Reihe, und der Junge war noch immer mit dem ersten Lehrsatz
beschäftigt. Geduldig ermutigte der Lehrer den Schüler,
in aller Ruhe den ersten Spruch noch einmal zu lernen.
Vierzehn Tage verstrichen, und der Junge entschuldigte sich immer
wieder, dass er nicht weitergekommen sei. Da verlor der Lehrer allmählich
die Geduld. Wie konnte das möglich sein? Die anderen hatten
bereits zehn Lektionen gelernt, und dieser Junge hing immer noch
an der ersten Lektion! Ungehalten fragte der Lehrer: »Warum
bemühst du dich nicht mehr und lernst diese Lektion endlich?«
Da antwortete das Kind: »Die eine Hälfte der Aufgabe
kann ich, doch die andere Hälfte beherrsche ich noch nicht.«
Nun riss dem Lehrer der Geduldsfaden vollends, und er gab dem Jungen
eine Ohrfeige. Der Schüler aber sprach bescheiden: »Als
ich sagte, dass ich nur die halbe Lektion kann, sprach ich die Wahrheit!
Als ich nämlich eben diese Ohrfeige bekam, stieg Zorn in mir
auf. Ihr seht also, dass ich noch lange an dieser Lektion zu lernen
habe!«
Da begriff der Lehrer, dass dieser scheinbar so begriffsstutzige
Junge der beste seiner Schüler war, und er schämte sich
sehr.
4.0 Die zwei Frösche
Es waren einmal zwei Frösche, die munter in Wiesen und Teichen
umherhüpften und sich ihres Lebens erfreuten. Doch einmal begab
es sich, dass sie in ihrem Spaß nicht merkten, wohin sie sprangen.
Plötzlich aber, welch ein Schreck, waren sie in einen Eimer
mit frisch gemolkener Milch gefallen.
Sie schwammen an die Wand des Eimers und suchten nach einem Ausgang.
Die Wände des Eimers aber waren steil und glatt. Sie kämpften
und kämpften, doch gelangten sie nicht hinaus. Als der ältere
der beiden Frösche sah, dass sie nicht entkommen konnten, verlor
er den Mut.
»Ich kann nicht mehr«, rief er voll Verzweiflung. »Wir
schaffen es nicht, wir kommen hier nicht heraus!«
»Gib nicht auf, Bruder! Hab Vertrauen! Wir werden es schaffen!«
Mit diesen Worten versuchte der jüngere Frosch, seinen Freund
zu ermutigen.
»Nein, es ist sinnlos«, entgegnete dieser. »Wir
kommen hier nicht mehr lebendig heraus. Alles ist vorbei.«
Mit diesen Worten gab der ältere Frosch auf und sank auf den
Boden des Eimers.
Der kleine Frosch war sehr traurig über den Verlust seines
geliebten Bruders. Doch er sammelte von neuem all seine Kräfte
und war fest entschlossen, seine Hoffnung nicht aufzugeben. »Wenn
ich aufgebe, sterbe ich. Ich muss weitermachen und versuchen herauszukommen.«
Stunden vergingen, und die Beinchen des Frosches wurden allmählich
so müde, dass er sie kaum noch bewegen konnte. Schließlich
sank auch ihm der Mut, und er dachte bei sich: »Ach, was soll
ich weiterkämpfen. Ich kann nicht mehr, ich gebe auf.«
Doch da dachte er an seinen toten Freund am Boden des Eimers. Dieser
Gedanke weckte wieder neuen Lebenswillen in ihm, und er kämpfte
weiter und paddelte und strampelte um sein Leben.
»Solange ich noch am Leben bin, mache ich weiter!« Mit
solchen Worten sprach er sich immer wieder Mut zu. »Ich muss
weiterkämpfen!« So strampelte der junge Frosch mit seinen
letzten Kräften und ruderte mit seinen Beinen in der Milch
herum, und bei jeder Bewegung schlug die Milch kleine Wellen.
Da, auf einmal geschah etwas völlig Unerwartetes. Der kleine
Frosch spürte etwas Festes unter sich. Er konnte es nicht fassen,
er hatte Boden unter den Füssen! Er blickte an sich herab,
und was entdeckte er? Die Milch war durch das viele Treten zu Butter
geschlagen! Rasch sprang er aus dem Eimer und war in Freiheit. Sein
unverzagtes Durchhaltevermögen hatte ihm das Leben gerettet
5.0 Die drei Fragen
Es dachte einmal ein König, nichts könne ihm missglücken,
wenn er nur immer die Zeit wüsste, in der er ein Werk zu beginnen
habe, und wenn er immer wüsste, mit welchen Menschen er sich
einlassen solle und mit welchen nicht, und wenn er immer wüsste,
welches von allen Werken das wichtigste sei.
Es kamen gelehrte Männer zum König und gaben ihm mancherlei
Antworten auf seine Fragen.
Auf seine erste Frage antworteten die einen, um für jedes Werk
die rechte Zeit zu wissen, müsse man vorher eine Einteilung
für den Tag, den Monat und das Jahr aufstellen und sich streng
an das halten, was für den einzelnen Tag festgesetzt ist. Andere
sagten wieder anderes.
Ebenso verschieden lautete die Antwort auf die zweite Frage. Die
einen sagten, die dem König unentbehrlichsten Männer seien
die Staatsmänner, andere, die Priester und Seher. Die dritten
erklärten, es seien die Ärzte, und die vierten behaupteten,
es seien die Krieger.
Auf die dritte Frage, welches das wichtigste Werk sei, antworteten
die einen, das sei die Wissenschaft, die anderen sprachen, die Kriegskunst,
wieder andere nannte die Gottesverehrung. Alle Antworten waren verschieden.
Daher passte dem König keine einzige von ihnen, und er belohnte
niemand. Um aber ganz genaue Antworten auf seine Fragen zu erhalten,
entschloss er sich, einen Einsiedler zu befragen, dessen Weisheit
in großem Rufe stand. Der Einsiedler lebte im Wald, verließ
seine Wohnstätte nie und empfing nur einfache Leute. Darum
zog der König ein schlichtes Gewand an, stieg vom Pferd weit
vor der Klause des Einsiedlers, ließ sein Gefolge zurück
und ging allein durch den Wald. Als der König sich dem Einsiedler
näherte, grub dieser vor seiner Hütte die Beete um. Er
erblickte den König, begrüßte ihn und grub ruhig
weiter. Er war mager und schwach und keuchte schwer, indem er den
Spaten in die Erde stieß und die kleinen Schollen umwandte.
Der König trat an ihn heran und sprach: »Ich bin gekommen,
weiser Einsiedler, um dich zu bitten, mir drei Fragen zu beantworten:
Welches ist die Zeit, die man einhalten muss und nicht versäumen
darf, um hinterher nichts bereuen zu müssen? Welche Leute sind
die unentbehrlichsten? Mit welchen Leuten muss man sich mehr,
mit welchen weniger befassen? ... Welche Werke sind die wichtigsten,
und welches von allen Werken muss daher zuerst getan werden?«
Der Einsiedler hörte dem König zu, antwortete aber nicht.
Er spuckte in die Hände und begann wieder zu arbeiten. »Du
bist erschöpft«, sagte der König, »gib mir
den Spaten, und setze dich auf die Erde.« - »Danke«,
erwiderte der Einsiedler, reichte dem König den Spaten und
setzte sich auf die Erde nieder. Als der König zwei Beete umgegraben
hatte, hielt er inne und wiederholte seine Fragen. Der Einsiedler
antwortete nicht, stand auf und streckte die Hände nach dem
Spaten aus. »Jetzt ruhe du, ich will nun ...« sagte
er. Der König aber gab den Spaten nicht her und fuhr fort zu
graben. Es verging eine Stunde, eine zweite, die Sonne begann hinter
den Bäumen zu verschwinden, da steckte der König den Spaten
in die Erde und sagte: »Ich bin zu dir gekommen, weiser Mann,
um auf meine Fragen eine Antwort zu erhalten. Wenn du nicht antworten
kannst, so sag es doch, dann will ich nach Hause gehen.«
»Sieh einmal, da kommt jemand gelaufen«, sprach der
Einsiedler, »lass sehen, wer das ist.« Der König
sah, dass in der Tat aus dem Walde ein bärtiger Mann gelaufen
kam. Der hielt sich die Hände vor den Leib, und zwischen den
Fingern sickerte Blut hervor. Als er bis zum König gelangt
war, fiel er zu Boden, lag unbeweglich da und ächzte leise.
Der König und der Einsiedler öffneten die Kleider des
Mannes. In seinem Leib war eine tiefe Wunde. Der König wusch
sie, so gut er konnte, und verband sie mit seinem Taschentuch und
mit einem Handtuch des Einsiedlers. Aber das Blut hörte nicht
auf zu strömen, und der König nahm zu wiederholten Malen
den mit warmen Blut durchtränkten Verband ab, wusch die Wunde
von neuem und verband sie wieder. Als das Blut endlich gestillt
war, bat der Verwundete um Wasser. Der König trug frisches
Wasser herbei und gab ihm zu trinken. Inzwischen war die Sonne untergegangen,
und es war kühl geworden. Mit Hilfe des Einsiedlers trug der
König den Verwundeten in die Klause und legte ihn aufs Bett.
Der Verwundete schloss die Augen und wurde still. Der König
aber war so ermüdet, dass er, auf der Schwelle zusammengekauert,
ebenfalls einschlief, und zwar so fest, dass er die ganze kurze
Sommernacht verschlief.
Als er am Morgen erwachte, konnte er lange nicht begreifen, wo er
war und wer dieser sonderbare bärtige Mann war, der auf dem
Lager ausgestreckt lag und ihn unausgesetzt mit leuchtenden Augen
ansah. »Verzeih mir«, sprach der bärtige Mann mit
schwacher Stimme, als er bemerkte, dass der König erwacht war
und ihn anblickte. »Ich kenne dich nicht und habe dir nichts
zu verzeihen«, erwiderte der König. »Du kennst
mich nicht, aber ich kenne dich. Ich bin dein Feind, jener Feind,
der geschworen hat, an dir Rache zu nehmen, weil du meinen Bruder
hingerichtet und meine Güter genommen hast. Ich habe dich töten
wollen, und du hast mir das Leben gerettet. Von nun an, wenn ich
am Leben bleibe, und wenn es dir recht ist, will ich dir als dein
treuester Gefolgsmann dienen, und auch meinen Söhnen will ich
das zu tun befehlen. Verzeihe mir!«
Der König war sehr froh darüber, dass es ihm so leicht
gelungen war, sich mit seinem Feinde auszusöhnen, und er verzieh
ihm nicht nur, sondern versprach auch, ihm seine Güter zurückzugeben
und ihm außerdem seine Diener und seinen Arzt zu schicken.
Als er sich von dem Verwundeten verabschiedet hatte, trat der König
hinaus auf die Vortreppe und suchte mit seinen Augen den Einsiedler.
Er war draußen bei den Beeten, die er gestern umgegraben hatte,
kniete am Boden und säte Gemüsesamen. Der König trat
an ihn heran und sprach: »Zum letzten Mal, du weiser Mann,
bitte ich dich, meine Fragen zu beantworten!» »Aber
du hast ja deine Antwort schon bekommen!« erwiderte der Einsiedler.
Er richtete sich auf und sah den König an. »Ich sollte
Antwort bekommen haben?« fragte der König. »Natürlich«,
erwiderte der Einsiedler. »Hättest du gestern nicht Mitleid
mit meiner Schwachheit gehabt und diese Beete umgegraben, sondern
wärst du allein zurückgegangen, so hätte dieser Mann
dich überfallen, und du hättest bereut, dass du nicht
bei mir geblieben bist. Somit war die richtige Zeit jene, als du
die Beete umgrubst, und ich war der wichtigste Mann, und das wichtigste
Werk war, mir Gutes zu tun. Dann, als jener Mann angelaufen kam,
war die wichtigste Zeit, seiner zu pflegen, denn sonst wäre
er verblutet, ohne dass er sich mit dir versöhnt hätte.
Er war für dich der wichtigste Mensch, und das, was du ihm
getan hast, war das wichtigste Werk.
Merke dir: die wichtigste Zeit ist - der AUGENBLICK. Nur über
ihn haben wir Gewalt. Der unentbehrlichste Mensch ist der, mit dem
uns der Augenblick zusammenführt; denn niemand kann wissen,
ob er noch je mit einem anderen zu tun haben wird. Das wichtigste
Werk ist, ihm Gutes zu erweisen - denn nur dazu wurde der Mensch
ins Leben gesandt.«
Die Auswahl erfolgte mit freundlicher Unterstützung von Alexandra
Cenek, Karin Eckelhart, Stefan Girsch, Petra Glanz, Jörg, Hansy,
Hana Kuruczova, Barbara Lotterstätter und Bianca Sulic (3AL,
Oktober 2003)
Quellenhinweise: Text 1 wurde vom
Institut f�r Kreativität
und Meditation übernommen. Text 2 stammt aus: N. Peseschkian:
Der Kaufmann und der Papagei. Fischer-TB, 1980; Die Texte 3 und 4
stammen aus: C. Puchner, B. Leibnitz (Hrsg.), Gute Geschichten machen
uns gut, Cadolzburg 1996, und die Geschichte »Die drei Fragen«
stammt von Leo Tolstoi und ist nachzulesen bei H. Halbfas, Das Menschenhaus,
Lesebuch für den Religionsunterricht, Patmos 1972.
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