3.0 Der Buddha ist meine Zuflucht
Das hab’ ich gehört: Zu einer Zeit lebte ein alter Musiker
in dieser Stadt; arm und verlassen. Das Zimmer, in dem er wohnte,
in dem er einen Teil der Nacht zubrachte und einen Teil des Tages,
war eng, düster, armselig, und in dem armseligsten, engsten,
düstersten Viertel gelegen. Nicht von je war der Alte so verlassen
gewesen. An Jahre konnte er zurückdenken, an Jahre voll Pracht
und Prunk – und was an Glanz die Erde dem Reichsten bietet,
das hatte sie einst ihm geboten. Was an Freude die Erde dem Freudvollen
bietet, das hatte sie einst ihm geboten. Was an Wonnen und Schönheit
die Erde dem Glücklichen bietet und dem Schönen bietet,
das hatte sie auch ihm geboten. An einem Tage aber war die Wende
in seinem Glück gekommen. So wie an einem hellen Morgen die
Sonne aufsteigt im wolkenlosen Himmel, ihren Höhepunkt erreicht
an Klarheit, um dann niederzugehen und in trübes Dunkel zu
tauchen, in undurchdringliches Dunkel zu tauchen, dann unsichtbar
wird, in Nacht versinkt. Und als die Wende in seinem Glücke
gekommen war und jeder neue Tag neues Unheil brachte, hatte er Hilfe
im Gebet gesucht; – auf dass sein Untergang aufgehalten werde,
auf den Knien gelegen lange und viele Nächte. Aber Pracht und
Prunk verblassten, Freude und Glanz schwanden dahin, sein Reichtum
zerbrach. Sein Weib verließ ihn, sein Kind starb, als er in
seiner Armut nichts mehr besaß, es zu pflegen. Da hatte er
um nichts mehr gebetet. So trat seine Seele in die Dunkelheit. Wie
in tiefer Nacht, wenn Finsternis die Formen und Kanten und Farben
der Dinge und Wesen verschlungen hat, und eines dem andern nicht
mehr kann unterschieden werden, – wie in tiefer Nacht der
Himmel sich leise, unmerklich hellt vom Schimmer des kommenden Mondes
und flüsternd die verschwundenen Formen und Kanten der Dinge
und Wesen zu einem andern Leben weckt, so tauchten leise, unmerklich,
flüsternd aus dem Dunkel seines Herzens die Worte auf, die
er einstmals vernommen, gelesen irgendwann in der Zeit seines Reichtums,
– die Worte des Buddha:
»Daher schließ dich an Liebes nicht,
Geliebtes lassen ist so schlimm!
Kein Daseinsband verstricket den,
Dem nichts mehr lieb noch unlieb ist.
Aus Liebem sprießet Gram hervor,
Aus Liebem sprießet Furcht hervor,
Wer sich von Liebem losgesagt,
Hat keinen Gram und keine Furcht.
Dem Lebenstrieb entsprießt der Gram,
Dem Lebenstrieb entsprießt die Frucht:
Wer losgelöst vom Lebenstrieb,
Hat keinen Gram und keine Furcht.«
Da trat seine Seele in die Dämmerung. Alles Wünschen und
alles Hoffen war von ihm abgefallen, aller Gram, alle Gier, alles
Leid, alle Freude. Morgens, wenn er erwachte, sandte er seine Liebe
und sein Mitleid nach Osten, nach Westen, nach Süden, nach
Norden, nach oben, nach unten, und wenn er seine Arbeit begann murmelte
er: »Der Buddha ist meine Zuflucht«, und wenn er sich
schlafen legte, murmelte er: »Der Buddha ist meine Zuflucht.«
Wenn er sein karges Mahl einnahm, wenn er trank, wenn er aufstand
oder sich niedersetzte, wenn er fortging oder wiederkam, murmelte
er: »Der Buddha ist meine Zuflucht.« Verschlossen wurden
da die Tore seiner Sinne, dass Wünschen und Hassen, –
Gier, Leid und Freude keinen Einlass mehr fanden. An Feiertagen,
wenn die Glocken läuteten, – zuweilen –, holte
er eine Glasplatte hervor und befestigte sie an seinem Tisch, schüttete
feine Sandkörner darauf, und wenn er mit dem Bogen seines Cello
an dem Rande des Glases niederstrich, dass es sang, schwingend und
klingend, tanzte der Sand und bildete kleine, feine, regelmäßige
Sterne. – Klangfiguren. Und wie die Sterne und Formen entstanden,
wuchsen und vergingen und wieder entstanden, gedachte er dumpf der
Lehre des Buddha Gautama vom Leiden, von der Leidensentstehung,
von der Leidensvernichtung, von dem zur Leidensvernichtung führenden
Pfad. »Der Buddha ist meine Zuflucht.« In das Land zu
ziehen, wo die Heiligen leben, die um nichts mehr zu beten haben
–, wo einst der Erhabene, Vollendete geweilt – der Asket
Gotamo – und den Weg zur Freiheit gewiesen, – war seine
glühende Sehnsucht. Dort zu suchen, zu finden den Kreis der
wenigen, Erkorenen, die den lebendigen Sinn der Lehre behüten,
den von Herz zu Herzen vererbten, unverdeuteten, unverwirrten, zur
atmenden Kraft gewordenen, – war seine glühende Sehnsucht.
Und das Geld zu erwerben, nach Indien pilgern zu können, in
das Land seiner glühenden Sehnsucht, spielte er mit verschlossenen
Sinnen sein Cello in Schenken seit Tagen und Wochen und vielen,
vielen Jahren. Wenn seine Gefährten ihm seinen schmalen Teil
reichten, von dem, was sie ersammelt, dachte er an den Erhabenen,
Vollendeten, – dass er Ihm wieder näher sei um einen
Schritt: »Der Buddha ist meine Zuflucht.« Weiß
und gebrechlich war er so geworden, da kam der Tag, der ihm die
letzten noch fehlenden Kreuzer brachte. In seinem armseligen düsteren
Zimmer stand er und starrte auf den Tisch. Was sollte das Geld dort
auf dem Tisch!? – Warum hatte er es gesammelt? Sein Gedächtnis
war erloschen. Er sann und sann, was sollte das Geld dort auf dem
Tisch! Sein Gedächtnis war erloschen. Er wusste nichts mehr
und konnte nicht mehr denken. Nur immer wieder und wieder, wie eine
Welle aus den Wassern springt und zurückfällt, tauchte
der Satz auf in seinem Hirn: »Der Buddha ist meine Zuflucht.
Der Buddha ist meine Zuflucht.« Da öffnete sich die Türe,
und sein Gefährte, der Geiger, ein mildtätiger, mitleidvoller
Mensch, trat herein. Der Alte hörte ihn nicht und starrte auf
das Geld. »Wir sammeln heute für die Kinder der Armen«,
sagte endlich leise der Geiger. Der Alte hörte ihn nicht. »Wir
sammeln heute für die Kinder derer, die vom Wege stehen. Wir
alle, arm und reich. – Dass sie nicht frieren und nicht verderben,
nicht hungern. Dass sie gepflegt werden, wenn sie krank sind. –
– – Willst du nichts geben. Alter? – – –
Und bist doch so reich!« Der Alte begriff den Sinn der Worte
kaum; das dumpfe Gefühl, er dürfe nichts wegnehmen, nichts
hergeben von dem Gelde dort auf dem Tisch, hielt sein Herz fest
wie ein Bann. Er konnte nicht sprechen, ihm war, als hätte
er diese Welt vergessen. Ein Traumgesicht zog an ihm vorüber.
– Er sah die glühende Sonne Indiens über regungslosen
Palmen und schimmernde Pagoden und in der Ferne die weißen
Berge blinken. Die unbewegliche Gestalt Gautama Buddhas kam wie
von weitem heran, und wie ein Echo hörte er im Herzen die kristallene
Stimme des Vollendeten erklingen, wie sie einst im Walde bei Sumsumaragiram
die seltsamen Worte gesprochen: »So seh’ ich dich denn
hier, Böser! – Lass die Hoffnung fahren: ›Er sieht
mich nicht!‹ Wohl kenn’ ich dich, Böser, lass die
Hoffnung fahren: ›Er kennt mich nicht‹ – Maro
bist du, der Böse. Nicht den Vollendeten plage, nicht des Vollendeten
Jünger. – – Weiche von hinnen aus dem Herzen, Maro,
weiche von hinnen aus dem Herzen, Maro.«
Da fühlte der Alte, als lasse eine Hand von ihm. Er gedachte
seines eigenen Kindes, – das gestorben, weil er in seiner
Armut nichts hatte, es zu pflegen. – Da nahm er all das Geld,
das auf dem Tische lag, und gab es dem Geiger. »Der Buddha
ist meine Zuflucht. Der Buddha ist meine Zuflucht.« Der Geiger
war fort, und der Alte hatte, wie an Feiertagen, – zuweilen
–, wenn die Glocken läuteten, die Glasplatte hervorgeholt
und am Tische befestigt. Und feine Sandkörner darauf geschüttet.
Als er mit dem Bogen seines Cello an dem Rande des Glases niederstrich,
dass es sang, schwingend und klingend, tanzte der Sand und bildete
kleine, feine, regelmäßige Sterne. Und wie die Sterne
und Formen entstanden, wuchsen und vergingen und wieder entstanden,
gedachte er dumpf der Lehre des Buddha Gautama vom Leiden, von der
Leidensentstehung, von der Leidensvernichtung, von dem zur Leidensvernichtung
führenden Pfad. Da begab es sich, dass durch das löcherige
Dach des Zimmers eine Schneeflocke herab auf den Tisch fiel, einen
Augenblick verweilte und zerging. – Ein kleiner, feiner, regelmäßiger
Stern. Wie ein Blitz die Finsternis zerreißt, plötzlich
– so war da das Licht der Erkenntnis in das Herz des Alten
gefallen: Töne, unerkannte, unhörbare, jenseitsliegende,
sind der Ursprung dieser Flocken, dieser Sterne, sind der Ursprung
der Natur, der Ursprung aller Formen, der Wesen und Dinge, sind
der Ursprung dieser Welt. Nicht ist diese Welt die wirkliche Welt:
klar ward er sich dessen bewusst. Nicht ist diese Welt die wirkliche,
nicht entstehende, nicht vergehende, nicht wiederum entstehende
Welt: – klar ward er sich dessen bewusst. Und klaren bewussten
Sinnes erkannte er des Weltalls verborgenen Pulsschlag und das Innere
seines Herzens des Abgeklärten, Trieberstorbenen, Wahnversiegten,
darinnen die Stille des Meeres herrschte und eine letzte Welle schlafendgehend
sprang und fiel: »Der Buddha ist meine Zuflucht … Der
Buddha ist meine Zuflucht.«
Zum Autor: Gustav Meyrink lebte von 1868 bis 1932. Bekannt wurde
er als Verfasser kurzer satirischer Erzählungen und Romane
sowie als Okkultist, der auf dem Gebiet der Esoterik forschte und
zahlreiche Verbindungen mit den gegensätzlichsten spirituellen
Strömungen unterhielt. Großen Ruhm erwarb er sich mit
dem Roman »Der Golem«, der 1915 erschien. Vgl. Frans
Smit: Gustav Meyrink, Auf der Suche nach dem Übersinnlichen,
Langen Müller 1988, S 11.
Die Texte wurden entnommen aus: Gustav Meyrink, Des Deutschen Spießers
Wunderhorn, Gesammelte Novellen, Langen Müller, 1982.
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